Informationen

Skepsis

Menschen sind neugierige Wesen, wie bereits Aristoteles in seiner berühmten Metaphysik schreibt: „Alle Menschen streben von Natur nach Wissen.“ (Metaphysik 980a21) Es ist für uns so selbstverständlich, Informationen zu sammeln, dass wir gar nicht darüber nachdenken, wie wir an die Informationen gelangen. Einige der gesammelten Informationen glauben wir von vornherein nicht, weil sie uns unwahrscheinlich erscheinen. Einige Informationen bestätigen uns in unseren Vorurteilen, weil sie genauso sind, wie wir sie erwartet haben. Andere Informationen erscheinen uns so unwichtig, dass wir sie gar nicht erst beachten. Egal, wie unser Interesse zu den Informationen ausgerichtet ist, wir sollten in der Lage sein, die Wertigkeit und Glaubwürdigkeit der Informationen zu beurteilen.

Wir sollten unbedingt unsere methodischen Fähigkeiten schulen, Informationen rasch auf ihre Glaubwürdigkeit zu überprüfen und aufbereitete Graphiken und Tabellen zu entziffern. Dazu müssen wir nur relativ wenig über wissenschaftliche Methoden wissen, aber es erfordert etwas Mühe, sich dieses Wissen soweit anzueignen, dass wir es jederzeit sicher anwenden können. Wenn wir aber einmal über diese Methoden verfügen, dann gehören wir nicht mehr zu den leichtgläubigen Lämmern, die sich beliebig beeinflussen lassen. Wer einmal hinter die Kulissen der Datenaufbereitung geblickt hat, der wird sich nicht so leicht übertölpeln lassen. Wir gehören dann zu denjenigen, die Informationen kritisch und fair abschätzen und bewerten können. Und vielleicht werden uns die neuen Fähigkeiten und Erkenntnisse auch dazu stimulieren, noch tiefer zu graben und weitere Schätze der wissenschaftlichen Methodik zu heben.

Wir sollten nicht so naiv sein, zu glauben, dass alle Informationen, die uns heutzutage dargeboten werden, aus verlässlichen und ehrlichen Quellen sprudeln. Es ist eher wahrscheinlich, dass die Informationen hochgradig selektiert wurden, um uns den Weg zu bestimmten Entscheidungen zu erleichtern. So werden uns zum Beispiel Vitamine angeboten, um unsere Gesundheit zu verbessern. Wir werden aufgefordert, proteinreiche Zusatzstoffe einzunehmen, um unsere Kräfte zu optimieren, und mehr Ballaststoffe zu uns zu nehmen, um Verdauungskrankheiten zu vermindern. Ob alle diese Empfehlungen tatsächlich zutreffen, sollten wir gelegentlich hinterfragen.

Unsere Neugierde ist der entscheidende Motor. Wenn wir uns für etwas interessieren, dann sollten wir so viele Informationen sammeln, wie wir bekommen können. Erst mit wirklich guten Informationen können wir auch gute Entscheidungen treffen. Wenn nur wenige oder schlechte Informationen verfügbar sind, dann sind gute Entscheidungen unwahrscheinlich und wir werden unser Ziel eher zufällig erreichen oder häufiger auch gar nicht. Jedes Mal, wenn wir etwas lesen oder sehen, das uns interessiert und das wir für wahrscheinlich halten, sollten wir uns fragen, ob unsere Informationen hinreichend und gut sind. Egal, wie evident und sicher die Informationen auf den ersten Blick erscheinen, sie können falsch oder verzerrt sein – gewollt oder ungewollt.

Glauben wir den eindringlichen Argumenten eines Politikers, der sich zur Wiederwahl stellt? Glauben wir bedingungslos den Angaben in der Werbung? Vertrauen Ärzte immer den werbenden Angaben der Pharmaindustrie über ein neues Medikament? Erwarten wir wirklich, dass uns Interessengruppen alle relevanten Informationen bereitstellen, damit wir eine fundierte und vernünftige Entscheidung fällen können? Oder erwarten wir eine selektive Zusammenstellung von Informationen, die die Argumente der Interessengruppe unterstützen? Wir würden es den Interessengruppen wahrscheinlich noch nicht einmal übel nehmen, wenn sie uns nicht mit allen Informationen versorgen würden. Wir würden aber nicht akzeptieren, wenn sie Daten fälschten oder uns trotz Nachfrage die Daten vorenthielten, um uns bewusst zu täuschen. Da wir aber nicht wissen, ob und in welchem Ausmaß die Informationen selektiert wurden, sollten wir auf der Hut sein und uns nicht übertölpeln lassen.

Immer wenn wir zweifeln, sollten wir uns mit „besseren“ Daten versorgen. Immer wenn wichtige Entscheidungen anstehen, sollten wir kritisch die Informationen prüfen, sei es beim Kauf eines Hauses, einer Teekanne oder eines Notebooks. Wie steht es mit der Planung eines teuren Urlaubs, der Wahl einer politischen Partei oder dem Einverständnis zu einer schweren Operation. Wären wir in allen diesen Situationen bereit, uns aufgrund einer schlechten Datenlage oder unzureichenden Beratung zu entscheiden? Wie sehr vertrauen wir überhaupt den Angaben in den Medien, wenn es um komplexe Sachverhalte geht: Wird das Wetter in drei Tagen genauso sein, wie vorhergesagt? Welcher Blutcholesterinspiegel ist tatsächlich gefährlich? Sollten wir bei Kopfschmerzen einen Arzt aufsuchen oder einfach eine Kopfschmerztablette nehmen? Was war die Ursache des Waldsterbens?

Wahrscheinlich glauben wir, die aufgeworfenen Fragen relativ sicher beantworten zu können. Konzentrieren wir uns deshalb auf die letzte Frage: Was war die Ursache des Waldsterbens? Erinnern wir uns: Die Emotionen überschlugen sich damals – heute redet niemand mehr davon. Man beschuldigte den sauren Regen, die Umweltverschmutzung und Schwermetalle. Weiß jemand, warum heute keiner mehr über das Waldsterben spricht? Selbst die Grünen nicht? Manche wissen vielleicht, dass außerhalb von Deutschland so gut wie niemand ernsthaft über das Waldsterben gesprochen hatte und es selbst in anderen Sprachen „Waldsterben“ heißt. Warum gibt es das Phänomen nur im deutschen Sprachgebrauch? Weil es dieses apokalyptische Waldsterben gar nicht gegeben hat. Was damals in das Bewusstsein rückte, waren Umweltprobleme gepaart mit beeindruckenden Bildern einer sehr kleinen Region aus dem Harz und Erzgebirge. Es waren dieselben Bilder einer kleinen Region, die immer und immer wieder publiziert wurden. Es existierten damals mehrere fundierte wissenschaftliche Gutachten, die eindeutig belegten, dass die Probleme durch eine außergewöhnliche Trockenperiode kombiniert mit Frostschäden verursacht wurden. Diese Gutachten drangen aber kaum in die Öffentlichkeit. Es gab damals politisch keine Möglichkeit, das Problem mit Sachverstand zu analysieren. Alle damaligen wissenschaftlichen Gutachten, die heute als sachgerecht anerkannt werden, wurden als parteiisch angesehen und nicht für die öffentliche Diskussion zugelassen. Es bestand kein Zweifel daran, dass Bäume erkrankt waren. Aber es waren andere Ursachen und kein „Waldsterben“.

Dieses Beispiel soll deutlich machen, wie wichtig es ist, sich umfassend zu informieren, wenn wir bedeutende Entscheidungen treffen oder Urteile fällen. Wir sollten die Informationen sorgfältig sichten und nur die guten berücksichtigen. Wir sollten uns wie Geschworene bei Gericht verhalten: die Beweislage sorgfältig durchsehen und nochmals und nochmals und nochmals sichten, und erst danach über das Schicksal anderer Personen entscheiden. Oder wir könnten auch sagen, dass wir uns wie beim Kauf eines Autos oder Fernsehers verhalten sollten.

27.2 Schwindelei

Es geht in den Wissenschaften letztlich darum, unsere Welt besser zu verstehen. Es geht nicht darum, wie wir sie persönlich einschätzen. Wir leben in einer arbeitsteiligen Welt und haben weder die Zeit noch die Fähigkeiten, alle relevanten Informationen sorgfältig zu sichten und zu bewerten. Wir müssen uns auf vertrauenswürdige Experten verlassen können. Dabei unterstellen wir, dass die Experten nach modernen wissenschaftlichen Methoden vorgegangen sind und ihre Meinungen und Folgerungen reproduzierbar sind. Die Experten kennzeichnen ihr Gutachten oder ihre Meinung als wissenschaftlich fundiert und drücken damit aus, dass wir ihnen vertrauen können. Vertrauen ist gut und nötig, aber manchmal ist auch eine Kontrolle angezeigt, ob sie tatsächlich den erforderlichen bewährten Methoden gefolgt sind. Dazu müssen wir uns mit einigen dieser Methoden vertraut machen. Nicht soweit, dass wir zu hauptberuflichen Statistikern werden, sondern nur soweit, dass wir die grundsätzlichen methodischen Anforderungen verstehen.

Schwindelei und Betrug sind bedauerlicherweise auch im wissenschaftlichen Alltag bekannt. Einer der Gründe, sich mit den Methoden auseinanderzusetzen, ist ja gerade, die Schwindelei zu erkennen und zu entlarven. Es werden deshalb in diesem Buch immer wieder Hinweise gegeben, was zu beachten ist, um gute Wissenschaft zu betreiben. Und wenn wir oder andere sich nicht an die empfohlenen Methoden halten, dann kann es eigentlich nur zwei Gründe geben: Entweder sind wir zu dumm, die Methode zu verstehen, oder wir wollen etwas verheimlichen oder betrügen. Beide Gründe werfen kein gutes Licht auf uns, so dass wir besser bei den empfohlenen Methoden bleiben sollten.

Es gibt unzählige Möglichkeiten zu schwindeln und mehrere umfangreiche Bücher darüber. Die gesamte Breite der statistischen Palette könnte genutzt werden. Auf der einen Seite die vollständige Missachtung aller Methodik bis hin zu ihrer fast vollständigen Beachtung. Daten einfach zu fälschen, ist ziemlich einfallslos und wird leicht entdeckt. Viel geschickter wäre es, ein Experiment solange zu wiederholen, bis das erwünschte Resultat erscheint. Wenn wir dann alle anderen Experimente verschweigen, werden nur Erfolge produziert. Unehrliche Pharmakonzerne haben früher gern solche Studienreihen durchgeführt. Sie haben ein neues Medikament solange in ordnungsgemäß durchgeführten Studien mit anderen Medikamenten verglichen, bis das neue Medikament den alten überlegen erschien. Die „erfolgreichen“ Studien wurden veröffentlicht und das neue, angeblich bessere Medikament ersetzte bald die alten. Das Zulassungsverfahren für Medikamente verlangt zwar, dass alle Studien offengelegt werden, aber nicht selten wurde bewusst dagegen verstoßen.

27.3 Sprache

Wir hatten bereits mehrfach betont, dass wir hier eine einfache Sprache wählen, die leicht nachvollziehbar ist. Wir wollen in diesem Abschnitt einige grundlegende Ansichten über unsere Sprache formulieren, die das Fundament unserer Argumentation bilden.

Wenn wir unseren Blick auf einen Teil unserer Welt richten, dann erscheint sie uns in irgendeiner Form strukturiert: in Bäume, Blumen, Tiere, Steine, Flüssigkeiten, Häuser, aber auch in Galaxien, Pulsare, Moleküle, Gene, Neutrinos, Staaten, Familien, usw. Es stellt sich die Frage, ob diese Gliederung eine Eigenschaft unserer Welt ist oder ob wir sie mit unserer Sprache gelernt haben? Handelt es sich um eine immanente Struktur der Realität oder lediglich um eine sprachabhängige Unterscheidung? Was drücken wir aus, wenn wir behaupten, dass einige Blätter grün sind. Wenn wir uns die Gegenstände anschauen, die wir als Blätter identifiziert haben, und ihnen dann die Eigenschaft zuschreiben, grün zu sein, dann glauben wir zu Recht behaupten zu können: “Die Blätter sind grün.” Gibt es aber auch eine Möglichkeit, auf die Blätter Bezug zu nehmen, ohne die Verwendung einer Sprache? Wie können wir auf einen Gegenstand ohne Sprache verweisen? Wie können wir über bestimmte Eigenschaften reden? Diese Fragen sind nicht zu beantworten, weil die Antworten wiederum eine Feststellung in einer anderen Sprache erfordern würde. Letztlich ist für uns die Sprache zur Kommunikation nicht hintergehbar, wenn wir uns auf Meinungen beziehen wollen, die wahrheitsfähig sind, d.h. die ein Wissen ausdrücken.

Wenn wir schon in einer Sprache sprechen müssen, um unser Wissen auszudrücken, stellt sich die Frage, wie sich das auf unsere Wahrnehmung der Realität auswirkt. Relativ einfach: die Begrifflichkeit einer Sprache legt fest, worüber wir sprechen können. Wenn wir keine Begriffe über bestimmte Eigenschaften haben, dann existieren die Eigenschaften nicht. Klingt für manche vielleicht seltsam, so dass wir uns Zeit zum Nachdenken gönnen sollten.

Die Einteilung unserer Begriffe sagt nichts über die Existenz von bestimmten Dingen aus, sondern sie ist nur ein sprachlicher Unterschied. Es ist deshalb auch nicht erlaubt zu sagen, dass eine bestimmte Erscheinung eine qualitative oder quantitative Natur hat, sondern lediglich, dass eine bestimmte Erscheinung in quantitativen oder qualitativen Begriffen ausgedrückt wird. Wir Menschen sind es, die die Welt gliedern, wenn wir durch die Verwendung von Begriffen auf mögliche Sachverhalte Bezug nehmen und über sie sprechen. Die Grenze unserer Sprache legt fest, worüber wir reden können und was wir begreifen können. Die Grenze unserer Sprache ist somit auch die Grenze unserer Erfahrung, oder wie Martin Heidegger es einmal ausdrückte: „die Sprache ist das Haus des Seins“.

27.3.1 Ausdrücke

Sprachlich lassen sich zwei Klassen von Ausdrücken unterscheiden: die singulären und die generellen Ausdrücke. Die Funktion der singulären Ausdrücke (Kennzeichnungen, Beschreibungen, Namen) besteht darin, den Bezug auf den Gegenstand sicherzustellen, über den etwas ausgesagt werden soll. Wir sollen durch die Verwendung eines singulären Ausdruckes in die Lage versetzt werden, den Gegenstand oder die Gegenstände zu identifizieren, über die gesprochen wird.

Die Funktion der generellen Ausdrücke besteht dagegen darin, etwas über den Gegenstand oder sein Verhältnis zu anderen Gegenständen auszudrücken. Mit einem einfachen Aussagesatz wie “Maria´s Ball ist rot” wird behauptet, dass es einen Ball gibt, der Maria gehört, der die Eigenschaft “rot” hat. Mit “Hans läuft schneller als die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland im Juni 2010″ wird Bezug genommen auf zwei Gegenstände, einmal auf die Person Hans, die im Kontext des Satzes genauer spezifiziert wird, und auf diejenige Person, die im Juni 2010 Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland war. Es wird außerdem festgestellt, dass die eine Person schneller läuft als die andere.

27.3.2 Qualitäten und Klassen

Wir werden uns im Weiteren mit den generellen Ausdrücken auseinander setzen, weil sie nicht nur auf einen einzigen Gegenstand angewendet werden können, sondern auf beliebig viele Gegenstände. Die einfachsten Begriffe sind die qualitativen bzw. klassifikatorischen Begriffe, durch die wir Gegenstände in verschiedene Klassen einteilen. Die Begriffe “rot”, “heiß”, “Tiger” oder “Uran” werden verwendet, um rote Gegenstände von andersfarbigen zu unterscheiden, heiße Gegenstände von kalten, Tiger von anderen Großkatzen und Uran von anderen chemischen Elementen. Dabei wird immer vorausgesetzt, dass die Begriffe hinreichend genau spezifiziert sind, um eine Trennung bzw. eindeutige Zuordnung der Gegenstände zu einer bestimmten Klasse zu ermöglichen, und dass die Einteilung über alle Gegenstände erschöpfend ist, d.h., dass jeder Gegenstand von Interesse unter eine der begrifflich festgelegten Klassen fällt. Durch Sätze der Form “das Auto ist rot” oder “Eis ist kalt” wird eine einfache Zuordnung des Gegenstandes zu der Klasse der roten oder kalten Gegenstände behauptet. Es handelt sich damit um eine einfache Klassifikation. Entweder der Gegenstand ist rot oder nicht. Entweder der Gegenstand ist kalt oder nicht.

Im Alltag sind die Bedingungen für eine eindeutige Klassenzugehörigkeit der Gegenstände nicht immer gegeben, weil die Begriffe häufig nur vage definiert sind, sie also kein scharfes Abgrenzungskriterium enthalten und sich auch zum Teil überlagern können. Dies ist im alltäglichen Gebrauch unproblematisch, solange sich aufgrund der gelungenen Kommunikation annehmen lässt, dass der Begriffsinhalt zwischen den Kommunikationsteilnehmern hinreichend klar ist. Diese Vagheit ist aber genau dann problematisch, wenn sie in eine wissenschaftliche Diskussion übertragen und nicht vorher beseitigt wird. Eine Kommunikationsstörung – fruchtlose Argumentationen und gegenseitiges Unverständnis – ist häufig die Folge.

27.3.3 Rangfolgen

Qualitative Begriffe sind dazu geeignet, den Gegenständen bestimmte Qualitäten zuzuordnen. Sie sagen uns, dass ein Gegenstand eine bestimmte Eigenschaft hat, aber nicht, ob er mehr oder weniger von dieser Eigenschaft hat. Dazu sind komparative oder topologische Begriffe geeignet wie “x ist kleiner als y” oder “x ist schneller als y”, die als Relationsbegriffe ein “mehr oder weniger” ausdrücken und uns damit mehr Informationen liefern als rein qualitative Begriffe. Durch komparative Begriffe sind neue Differenzierungen möglich, indem eine Rangordnung oder eine Reihe aufgestellt wird, in der die Gegenstände nach einem Merkmal sortiert werden. Dadurch wird in dem untersuchten Gegenstandsbereich eine Ordnung eingeführt, die später die Einführung quantitativer Begriffe erleichtert.

27.3.4 Quantitäten

Der Übergang von komparativen zu quantitativen Begriffen ist für den wissenschaftlichen Fortschritt entscheidend. Deshalb sollten wir den nachfolgenden, zum Teil etwas schwierigen Argumenten unsere besondere Aufmerksamkeit widmen.

Unter einem metrischen oder quantitativen Begriff wird eine numerische Funktion verstanden, in der einzelnen Argumenten bestimmte Werte zugeordnet werden. Das klingt für den Normalbürger so sehr nach höherer Mathematik, dass wir diese Definition erläutern müssen. Es mag schwierig klingen, aber es ist dennoch ganz einfach. Wir haben ein Argument x und eine Funktion f. Wenn wir jetzt das Argument x in die Funktion f einsetzen, dann lässt sich der Wert f(x) berechnen. Argumente müssen nicht zwangsläufig Zahlen sein. Aber die Werte f(x), die wir durch die Funktion erhalten, müssen immer Zahlen sein, denn sonst wäre es kein quantitativer Begriff bzw. keine numerische Funktion.

Aus der Schule erinnern wir uns noch an diese komischen Gleichungen, die so manchem Schüler das Leben schwer gemacht haben. Hier wollen wir aber keine Gleichungen lösen, sondern nur das Prinzip verstehen. Nehmen wir einmal an, wir sehen eine quantitative Beziehung zwischen der täglichen Trinkmenge von Bier, dem Körpergewicht und dem Geschlecht, dann könnten wir das in einer Formel ausdrücken: „f(x)=5 ml*Gewicht + 1,5 l*Geschlecht“. Jetzt könnten wir das Körpergewicht in Kilogramm in die Formel eingeben. Beim Geschlecht geben wir eine Null ein, wenn es sich um eine Frau handelt, und eine Eins, wenn es ein Mann ist. Wenn Frau und Mann beide 100 kg wiegen, dann trinkt die Frau 500 ml Bier und der Mann zwei l Bier.

Die Einführung eines quantitativen Begriffes wird Quantifizierung genannt, die wir von der Messung unterscheiden. Eine Messung ist lediglich der Prozess zur Bestimmung einer bestimmten Größe, d.h. Messungen können nur vorgenommen werden, wenn die Quantifizierung bereits gelungen ist.

Quantitative Begriffe sind nicht etwas, was sich unserem Verstand aufdrängt, indem wir Gegenstände anschauen. Dies mag für qualitative Begriffe gelten, aber komparative und insbesondere quantitative Begriffe bedürfen zu ihrer Einführung eines außergewöhnlichen, kreativen Aktes. Sie sind ein Produkt des Menschen und nicht der Welt – auch wenn die Welt uns nahe legt, gewisse Prinzipien einzuhalten, um in der Anwendung der quantitativen Begriffe erfolgreich zu sein. Nicht die Welt an sich wird durch Logik und Mathematik beherrscht, sondern nur derjenige Ausschnitt von ihr, den wir versuchen zu erklären oder zu verstehen. Nur eine interpretierte Welt ist durch unseren Verstand mathematisierbar.

27.3.5 Quantifizierung

Warum ist die Einführung von quantitativen Begriffen aber so wichtig für den Forscher? Warum sind qualitative Begriffe nicht ausreichend? Warum wird eine Mathematisierung der Wissenschaften bzw. ihrer Gesetzmäßigkeiten angestrebt? Die Antwort ist relativ einfach: Quantitative Begriffe ermöglichen dem Forscher, sein Wissen in einfacher und übersichtlicher Art darzustellen, sehr differenzierte Angaben über unsere Welt zu formulieren und damit überprüfbare Gesetzmäßigkeiten aufzustellen. Dieses wird an einem einfachen Gedankenexperiment deutlich werden.

Nehmen wir an, ein Forscher würde quantitative und komparative Begriffe ablehnen und nur qualitative verwenden. Nehmen wir weiterhin an, dass er an vier Patienten eine pharmakologische Studie vornimmt, um die Verminderung der Körpertemperatur nach Anwendung eines fiebersenkenden Medikamentes zu untersuchen. Welche Möglichkeit hätte er, das Ergebnis seines Experimentes zu überprüfen? Er müsste für jeden von ihm wahrgenommenen Wärmeunterschied einen neuen qualitativen Begriff einfügen, z.B. “kühl1”, “kühl2″, “warm3” oder “heiß4” o.ä. Dieses wäre sehr unhandlich und würde eine große Anforderung an sein Gedächtnis bedeuten. Insbesondere wenn wir uns noch vorstellen, dass er die Patientenzahl auf 20 erhöhen möchte, um die Wirkung des Medikamentes sicher abschätzen zu können. Damit aber nicht genug. Da er auch keine komparativen Begriffe zulässt, müsste er weitere qualitative Begriffe einführen, die die anderen Begriffe miteinander in Beziehung setzen und die er ebenfalls nicht vergessen dürfte: “kühl1 ist kühler als kühl2″ oder “warm3 ist kühler als heiß4 aber wärmer als kühl2″ usw. Dieses Beispiel mag verdeutlichen, was wir durch die Quantifizierung des Temperaturbegriffes und dem Erlernen des Zahlensystems an Wissen ausdrücken können. Es ist offensichtlich, dass sowohl die Fülle der Informationen als auch ihre Präzision mit der Quantifizierung zunimmt.

Für den Wissenschaftler ist die Formulierung von Gesetzmäßigkeiten durch quantitative Begriffe noch wichtiger. Nehmen wir an, ein Arzt misst den Kopfumfang eines neugeborenen Mädchens fünf Mal und gibt diesen in Relation zum Alter an (Tab. 27-1).

Tab. 27-1   Kopfumfang und Lebensalter eines Kleinkindes

Aus diesen Werten könnte er eine Gesetzmäßigkeit formulieren, die es gestattet, nicht nur das weitere Wachstum vorherzusagen, sondern auch anzugeben, wie groß der Kopfumfang zwischen den Messungen war. In diesem Beispiel wird davon abstrahiert, dass die einzelnen Messungen Schwankungen unterliegen und statistische Verfahren angewendet werden müssten, um zu überprüfen, ob die Gesetzmäßigkeit zutrifft oder nicht. Würden uns keine quantitativen Begriffe zur Verfügung stehen, dann hätte der Arzt nur sagen können, dass sich zehn verschiedene Merkmale zu fünf verschiedenen Zeitpunkten nachweisen ließen. Ohne quantitative Begriffe ist der Arzt weder in der Lage, eine Gesetzmäßigkeit korrekt auszudrücken, die er vermutet, noch könnte er seine Gesetzmäßigkeit fruchtbar für weitere Prognosen einsetzen.

Aus dem Vorhergehenden können wir entnehmen, dass die Formulierung einer Theorie mehr ist als die Zusammenfassung von empirischen Verallgemeinerungen. Durch die Mathematisierung und die Verwendung von quantitativen Begriffen erhält die Theorie einen Status, der über die Systematisierung von Beobachtungen weit hinausgeht. Der Erfolg der modernen Naturwissenschaften beruht im Wesentlichen auf der wissenschaftlichen Beschreibung der Natur durch formalisierte Gesetze und der Abbildung der Realität durch mathematische Modelle.

Wenn wir nun komplexe physikalische Theorien betrachten, wie sie seit der Neuzeit mathematisch formuliert wurden, so werden wir keine Regel finden, wie wir diese komplexen Theorien aus den Tatsachen ableiten können. Sie beruhen auf kreativen Festsetzungen unserer Vorstellungskraft, die in einem Stück erfunden wurden, um dann auf die Natur angewendet zu werden. Selbst wenn wir eine bestimmte Menge an Daten (Zahlen) anschauen, muss daraus nicht bereits eine sinnvolle Theorie entspringen. In einer Datenmenge suchen wir meistens nach einem bestimmten Muster, das wir uns ausgedacht haben oder von dem wir glauben, dass es adäquat sein könnte. Erst dadurch, dass wir ein bestimmtes Muster zu finden trachten, strukturieren sich die Daten.

27.3.6 Probleme lösen

Menschen lösen Probleme. Menschen wollen Probleme lösen. Menschen müssen Probleme lösen. Menschen schaffen sich auch Probleme, die sie vorher nicht hatten. Hier werden wir kein Buch anbieten, dass sich mit Strategien zur Lösung von Problemen beschäftigt.

Wie sieht es mit wissenschaftlichen Problemen aus? Wie wählen wir unser Forschungsthema aus? Es soll natürlich interessant sein. Es soll ein wichtiges Problem gelöst werden. Es soll zwar schwierig sein, aber auch nicht zu schwierig, denn wir wollen am Ende erfolgreich sein. Ein Problem lösen zu wollen, dass von vornherein keinen Erfolg verspricht, können sich nur wenige leisten. Wer innerhalb einer bestimmten Zeit das Fundament für eine akademische Karriere aufbauen will, der wird sich nicht auf ein so gefährliches Abenteuer einlassen.

Manche wählen ein vermeintliches Problem, dass eigentlich gar keines ist oder bereits gelöst wurde, um sicher erfolgreich zu sein. Diese Tätigkeit ist zwar sehr langweilig, aber auch ein sicheres Geschäft. Interessanter wird es, wenn das Problem sehr wahrscheinlich lösbar ist, wir aber die genaue Lösung noch nicht kennen. Das könnte zumindest eine intellektuelle Herausforderung sein. Spannend werden Probleme erst, wenn sie nicht so leicht zu lösen sind. Besonders wenn sich kleine Erfolge und Misserfolge stetig abwechseln, weil wir dann zusätzlich emotional aufgewühlt werden. Wenn wir psychisch belastbar sind, dann bleiben wir dabei, solange wir eine Aussicht auf Erfolg sehen – und uns jemand mit ausreichenden Ressourcen versorgt. Erscheint ein Problem mit den verfügbaren Möglichkeiten als nicht lösbar oder sind wir von den Misserfolgen zu frustriert, wenden wir uns anderen Problemen zu.

Wenn wir komplexe Probleme nicht überschauen können, dann reduzieren wir sie zu kleineren Problemen, die wir lösen können. Wenn viele Probleme gleichzeitig gelöst werden müssen, dann gewichten wir sie und lösen die wichtigsten Probleme zuerst. – Manche Kleingeister neigen aber eher dazu, die leichten und unerheblichen Probleme zuerst zu lösen und darüber die schwerwiegenden zu vergessen. Egal, wie wir es anpacken, wir sollten immer darauf achten, dass wir die Probleme lösen, die wir lösen sollen, und nicht nur die, die wir lösen können.