Wahrscheinlichkeitsrechnung

Anstrengend, aber wichtig!

Dieser gesamte Abschnitt ist sicherlich sehr technisch und erfordert deshalb mehr Konzentration beim Lesen als andere Abschnitte. Wir sollten uns aber davor hüten, zu schnell aufzugeben, denn die vorgestellten elementaren Rechenschritte sind äußerst wichtig. Es wird zwar versucht, die abschreckenden Begriffe der mathematischen Statistik zu vermeiden, aber das gelingt nicht immer. Am Ende dieses Abschnittes sollten wir die Grundregeln soweit begriffen haben, dass uns Kardinalfehler zukünftig nicht mehr unterlaufen. Wer dann immer noch Lust auf mehr hat, sollte dann ein „richtiges“ Lehrbuch zur Wahrscheinlichkeitsrechnung heranziehen.

Beginnen wir mit einer verblüffenden Rechnung. Nehmen wir an, wir gehen zu einem Fußballspiel. Auf dem Platz versammeln sich 23 Spieler – zwei Mannschaften und ein Schiedsrichter. Wir fragen alle Beteiligten nach ihrem Geburtstag und stellen fest, dass zwei Spieler am selben Tag Geburtstag haben, wobei wir allerdings das Geburtsjahr nicht berücksichtigen. Wir halten das für einen großen Zufall, überprüfen aber in der darauffolgenden Woche bei einem anderen Fußballspiel erneut die Geburtstage. Dieses Mal gibt es keine Übereinstimmung und wir vergessen den Vorgang wieder. Ein Jahr später blicken wir erneut bei einem Spiel auf die Geburtstage und entdecken erneut eine Übereinstimmung. Wir bitten jetzt einen befreundeten Mathematiker, die Wahrscheinlichkeit zu berechnen, wie häufig bei 23 Menschen zufällig ein Geburtstag übereinstimmt. Das Ergebnis ist überraschend. Wie hoch ist wohl die Wahrscheinlichkeit? Könnten wir sie selbst berechnen? Die letzte Frage können wir bejahen. Wenn wir genau wissen würden, wie solche Wahrscheinlichkeiten zu berechnen sind, dann könnten wir die Aufgabe sogar sehr leicht lösen. Eine Lösung findet sich im Internet unter dem Stichwort „Geburtstagsparadoxon“. Doch nun zum Ergebnis. Die Wahrscheinlichkeit beträgt 50 Prozent. Wenn wir 100 beliebige Fußballspiele überprüfen würden, dann werden wir in 50 Fällen eine Übereinstimmung entdecken.

Wir sind über das Ergebnis sehr überrascht, weil wir intuitiv wahrscheinlich eher auf fünf Übereinstimmungen getippt hätten. Aufgrund dieser hohen Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Wahrscheinlichkeit und der von uns intuitiv vermuteten, wird dieser Sachverhalt auch „Geburtstagsparadoxon“ genannt. Doch raten wir hier ein bisschen weiter? Wie hoch beträgt die Wahrscheinlichkeit für einen gemeinsamen Geburtstag, wenn wir die Zahl der eingeschlossenen Personen von 23 auf 36 erhöhen? Sie beträgt dann über 80 Prozent. Bei mehr als 50 Personen ist es schon eher unwahrscheinlich, dass wir keinen Doppelgeburtstag finden. Sollte sich also jemand gerade in einer Gesellschaft von 50 Personen befinden, dann sollte er den anderen eine entsprechende Wette anbieten.

17.1 Kolmogorow-Axiome

Wenn wir uns mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung beschäftigen, dann werden wir immer wieder auf Begriffe aus der Mengenlehre stoßen, weil die Wahrscheinlichkeitstheorie mengentheoretisch definiert ist. Da Mengenlehre nicht jedermanns Sache ist, werden wir sie den Fachleuten überlassen.

Die Wahrscheinlichkeitsrechnung basiert auf einem axiomatischen System. Was ist das? Axiome sind für ein mathematisches Kalkül der Fels, auf dem die weiteren Berechnungen und die Ableitung von Theoremen fußen. Axiome werden nicht logisch abgeleitet, sondern sie werden als oberste Prinzipien gesetzt und als wahr angesehen. Sie können sich im eigentlichen Sinne nicht als wahr erweisen, sondern nur als fruchtbar. Wenn sie erfolgreich angewendet werden können und in sich widerspruchsfrei sind, dann unterstellen wir so etwas wie eine pragmatische „Wahrheit“.

In der Wahrscheinlichkeitstheorie beruht das mathematische System auf drei Axiomen, die Andrei Kolmogorow 1933 publizierte. Das erste Axiom weist jedem Ereignis eine Zahl zwischen 0 und 1 zu. Das zweite Axiom definiert, dass für ein sicheres Ereignis die Wahrscheinlichkeit 1 beträgt. Das dritte Axiom beschreibt, vereinfacht ausgedrückt, wie sich die Wahrscheinlichkeiten addieren lassen. Aus diesen relativ einfachen Zutaten besteht der sichere Fels, auf dem das gesamte Gebäude der Wahrscheinlichkeitstheorie ruht. In diesen Axiomen steht nicht ein inhaltlicher Satz über dasjenige, was wir unter Wahrscheinlichkeit verstehen, sondern sie bilden lediglich das mathematische Fundament. Für uns sind folgende Sachverhalte wichtig: Kann ein Ereignis nicht auftreten, dann ist die Wahrscheinlichkeit (probability) gleich Null (p=0). Ist ein Ereignis sicher, dann ist die Wahrscheinlichkeit gleich Eins (p=1). Alle anderen Wahrscheinlichkeiten liegen zwischen 0 und 1.

Wir wollen jetzt einige Berechnungen an einfachen Beispielen umgangssprachlich erläutern. Wenn wir einen sechsseitigen normalen Würfel zum Spielen verwenden, dann setzen wir die Wahrscheinlichkeit mit 1/6 an, dass eine bestimmte Zahl gewürfelt wird. Die ausgewogene Symmetrie des Würfels legt das nahe, denn wir haben insgesamt sechs Möglichkeiten {1, 2, 3, 4, 5, 6} und wollen davon eine bestimmte Zahl würfeln. Sollte jemand 8mal hintereinander eine Sechs würfeln, dann würden wir vermuten, dass der Würfel manipuliert wurde, weil wir das für äußerst unwahrscheinlich halten. Wie wahrscheinlich ist es aber genau, dass jemand 8mal hintereinander dieselbe Zahl würfelt? Dazu berechnen wir zuerst, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, eine Sechs zu würfeln. Sie beträgt 1/6. Wenn wir jetzt ein weiteres Mal würfeln, dann beträgt die Wahrscheinlichkeit für den zweiten Wurf ebenfalls 1/6. Jeder Wurf hat dieselbe Wahrscheinlichkeit, dass eine Sechs gewürfelt wird. Wie berechnen wir nun die Wahrscheinlichkeit, dass jedes Mal dasselbe Ereignis eintritt. Dazu werden die einzelnen Wahrscheinlichkeiten multipliziert. Im ersten Wurf beträgt die Wahrscheinlichkeit 1/6, im zweiten Wurf (1/6)*(1/6)=1/36, im dritten Wurf (1/6)*(1/6)*(1/6)=1/216, …. im achten Wurf dann (1/6)8=1/1.679.616. Das ist sehr unwahrscheinlich, so dass die Vermutung gerechtfertigt ist, dass es sich um einen manipulierten Würfel handelt. Allerdings dürfen wir niemals vergessen, dass auch unwahrscheinliche Ereignisse eintreten – wie zum Beispiel Lottogewinne oder Jackpots. Wir können unseren Mitspieler nicht allein deshalb für einen Betrüger halten, weil er viel Glück hatte. Unwahrscheinlich bedeutet nicht unmöglich. Selbst äußerst unwahrscheinliche Ereignisse können eintreten und zu schweren Schäden führen – wie wir nach dem schweren Erdbeben und Tsunami von den Atomkraftwerken in Fukushima wissen.

Wenn wir also unterstellen, dass mehrere Ereignisse, die unabhängig voneinander sind, allesamt eintreten, dann müssen wir die Wahrscheinlichkeiten multiplizieren. Wenn wir Kopf oder Zahl einer Münze werfen können, dann beträgt die Wahrscheinlichkeit für Kopf 50 Prozent bzw. 0,5. Wenn wir zweimal hintereinander Kopf werfen wollen, dann beträgt die Wahrscheinlichkeit dafür 0,5*0,5=0,25. Wenn wir 10mal hintereinander Kopf werfen wollen, dann beträgt die Wahrscheinlichkeit dafür (0,5)10=0,00098, das sind grob 1:1000 .

Jetzt nehmen wir zwei Würfel und wollen mindestens eine Sechs würfeln. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit? Sie beträgt mit dem ersten Würfel 1/6 und mit dem zweiten Würfel ebenfalls 1/6. Also beträgt unsere Chance (1/6)+(1/6)=2/6. Unsere Chancen haben sich verdoppelt. Die Wahrscheinlichkeiten wurden addiert und damit die Chancen verbessert. Spätestens an dieser Stelle werden sicherlich einige Leser denken, dass das doch nicht so einfach sein kann, mit Wahrscheinlichkeiten zu rechnen. Glücklicherweise können wir viele Fragestellungen mit diesen einfachen Berechnungen beantworten. Für komplexere Fragestellungen sind natürlich auch sehr umfangreiche Rechnungen erforderlich, die wir aber getrost den Spezialisten überlassen können.

Relativ einfach dürfte ein Missverständnis auszuräumen sein, das manchmal auftritt, wenn in einem Satz eine Konjunktion formuliert wird, eine „und“-Verknüpfung. Unterstellen wir, dass Menschen zu 10 Prozent blond und zu 50 Prozent weiblichen Geschlechtes sind. Wie viele blonde Frauen gibt es dann? Sicherlich keinesfalls mehr als 10 Prozent, denn es müsste die Schnittmenge aller Frauen und aller Blonden sein. Wenn sich die Blonden auf alle beiden Geschlechter gleichmäßig verteilen, dann sind es eher fünf Prozent. Einige Menschen berechnen bei der Frage aber nicht die Schnittmenge, sondern vermuten intuitiv mehr als 10 Prozent. Offensichtlich sind sie von den 50 Prozent Frauen so beeindruckt, dass sie die eigentliche „und“-Verknüpfung  falsch interpretieren.

17.2 Aktenstudium

Wenden wir unsere neu erworbenen Rechenkünste an. Dazu betrachten wir eine Situation aus dem Krankenhaus. Eine ähnliche Situation könnte aber auch in jedem anderen Büro eintreten, in dem Mitarbeiter mehrere Dokumente verwalten. Doch nun zur Geschichte: Es ist Chefarztvisite auf einer 30 Bettenstation und der Chef hat wieder einmal eine miese Laune. Genervt von der scheinbaren Schlamperei auf der Station kontrolliert er bei der wöchentlichen Krankenvisite drei Akten. Alle sind fehlerhaft, wie auch bei der letzten Visite. Mit dieser Aktion verschafft er sich einerseits die Bewunderung der nachgeordneten Ärzte, weil er instinktiv und quasi hellseherisch Fehler findet, und demonstriert andererseits, dass nichts seiner Aufmerksamkeit entgeht und er jeden auch noch so kleinen Fehler aufdecken könnte – wenn er wollte. Bei der Visite hat er die Assistenten auch gleich rund gemacht. Schließlich vermutete er eine große Schlamperei, denn alle Krankenakten scheinen schlecht geführt zu werden. Seltsamerweise sind die anwesenden Oberärzte bei der Visite immer sehr gelassen. Haben Sie sich mit den übersinnlichen Fähigkeiten des Chefs abgefunden? Gehört es zu den angeborenen Qualitäten eines Chefarztes, zielsicher fehlerhafte Krankenakten zu finden? Es scheint tatsächlich so, als ob Chefärzte mit hellseherischen Fähigkeiten ausgestattet sind, denn sie finden bei der Visite fast immer problematische Akten – egal ob sorgfältig oder schlampig gearbeitet wurde. Aus der Sicht der eifrigen Assistenten ist das sehr ärgerlich und demotivierend, weil ihre Arbeit nicht nur nicht gewürdigt, sondern sogar als schlampig eingestuft wird.

Wie aber kommt es, dass der Chef immer die problematischen Akten findet? Das kann doch kein Zufall sein? Um die Frage zu beantworten, wie wahrscheinlich ein solcher „Glücksgriff“ wäre, müsste zuerst geklärt werden, welcher Situation wir uns hier gegenüber sehen – sind alle 30 Akten fehlerhaft oder lediglich die entdeckten drei? Im ersten Fall wäre es für den Chef einfach, fehlerbehaftete Akten zu finden, denn schließlich enthalten alle Akten Fehler. Gleichgültig welche Akte gezogen wird, sie wäre ein Treffer. Da der Chefarzt von sich weiß – oder zumindest selbstkritisch vermutet –, dass er kein Hellseher ist, muss er annehmen, dass genau diese Situation vorliegt. Deshalb ist er auch so verärgert und unterstellt allgemeine Schlamperei. Ganz anders sieht es aus der Sicht des Stationsarztes aus. Der Arzt weiß ganz sicher, dass er sehr sorgfältig gearbeitet hat und dass es nur diese drei fehlerbehafteten Akten unter den 30 Patientenakten hat geben können. Die Wahrscheinlichkeit unter diesen Bedingungen die richtigen drei Akten aus 30 Akten zu ziehen, lässt sich leicht berechnen. Für die erste Akte ist sie 1/30, für die zweite 1/29 und für die dritte 1/28. Das Ereignis, alle drei Akten während der Visite zufällig zu finden, tritt mit einer Wahrscheinlichkeit von (1/30)*(1/29)*(1/28) = 0,00004 bzw. 0,004 Prozent ein. Diese extrem geringe Wahrscheinlichkeit lässt Assistenten zu Recht stutzig werden. Da der Chefarzt dieses Wunder aber bei fast jeder Visite vollbringt, scheidet der Zufall definitiv aus. Chefärzte scheinen eben doch übersinnliche Fähigkeiten zu besitzen.

Da wir weder an die übersinnlichen Fähigkeiten des Chefarztes noch an die schlampige Arbeit des Assistenzarztes glauben, muss irgendwo ein Gedankenfehler schlummern. Wenn wir die Situation noch einmal genauer betrachten, ergibt sich ein viel detailreicheres Szenario: Es geht eigentlich gar nicht um Akten, sondern um die einzelnen Dokumente, die fehlerhaft sein können. So bemüht sich etwa ein Assistent, mit größter Sorgfalt eine Krankenakte zu führen, die aus n Teilen besteht, die allesamt einen Fehler aufweisen können. Eine kleine chirurgische Akte mag nur 15 relevante Dokumente enthalten, eine intensivmedizinische allerdings beinhaltet 50 und mehr Dokumente. Wir können also mindestens 15, 50 oder noch mehr Fehler pro Akte begehen, wenn nur ein Fehler pro Dokument unterstellt wird. Bei 30 Akten wären das 450 bzw. 1500 mögliche Fehler. Selbst wenn wir sehr sorgfältig arbeiten, ist es offensichtlich nur eine Frage der Zeit, bis wir einen Dokumentationsfehler begehen. Aber wie findet der Chef dann aus den 450 bzw. 1500 Dokumenten so zielsicher die fehlerhaften? Ist hier Magie im Spiel oder täuschen uns die Wahrscheinlichkeiten?

Wir wollen jetzt berechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine einzelne Akte vollständig bzw. fehlerfrei ist. Dazu unterstellen wir zunächst, dass der Arzt extrem gewissenhaft arbeitet – was bedeutet, dass er nur in einem Prozent Fehler macht. Wenn wir nun weiterhin unterstellen, dass die Akte nur aus 15 relevanten Dokumente besteht, dann ist die Akte mit einer Wahrscheinlichkeit von (0,99)15 vollständig. Dies entspricht einer Wahrscheinlichkeit von 0,86 – also 86 Prozent. Auch wenn solch eine extreme Sorgfalt aus der Sicht des Chefarztes wünschenswert wäre, ist sie völlig unrealistisch. Niemand arbeitet mit solch einer hohen Verlässlichkeit.

Eine sehr gute Chefarztsekretärin schätzte intuitiv, dass sie in der Routine eine Akte bestehend aus zehn Teilen in ungefähr 85 Prozent völlig korrekt kontrollieren und abheften kann – vorausgesetzt, sie wird nicht gestört. Wenn Ärzte ihrer Dokumentation mit 95prozentiger Sorgfalt nachkommen, dann dürfen wir das mit gutem Gewissen als äußerst gut bezeichnen. Wahrscheinlich ist 85 Prozent aber eher die Regel. Berechnen wir, wie häufig eine Akte bestehend aus 15 Teilen fehlerfrei ist, wenn wir mit 85- oder 95prozentiger Genauigkeit arbeiten. Sie beträgt im ersten Fall (0,85)15 = 0,087, was 8,7 Prozent bedeutet, und im zweiten Fall (0,95)15 = 0,46, also 46 Prozent. Sind wir also weniger sorgfältig, dann ist fast jede Akte unvollständig und sind wir sehr sorgfältig, dann ist es immer noch die Hälfte.

Nun wird klar, dass man bei den sehr umfangreichen Akten einer Intensivstation quasi immer einen Dokumentationsfehler entdecken kann. Wenn eine Akte aus 50 Teilen besteht, betragen die entsprechenden Wahrscheinlichkeiten (0,85)50 = 0,0003 und (0,95)50 = 0,077. Als penibler Gutachter, der aufgrund einer Schadensklage eine Krankenakte auf jede Kleinigkeit sichtet, würde man immer eine unvollständige umfangreiche Akte finden – allerdings nicht weil schlampig dokumentiert wurde, sondern weil es so viele relevante Dokumente sind.

Chefärzte sind keine Hellseher, sondern sie sind einfach nur schlau, und vielleicht sind sie deshalb zu Chefs geworden. Sie wählen bei der Visite diejenigen Akten aus, bei denen irgendetwas unklar gewesen sein könnte, bei der der Assistent im Stress war und nicht seine sonstige Sorgfalt walten lassen konnte. Da hier die Wahrscheinlichkeit niedrig ist, alles korrekt gemacht zu haben, findet der Chefarzt immer einen Fehler – selbst beim besten Assistenten -, wenn er die gesamte Akte durchforsten darf, bis er einen Fehler gefunden hat. Wenn Chefärzte verlässlich einschätzen wollen, wie gut ihre Ärzte dokumentieren, dann sind die Visite oder eine wahllose Durchsicht der Akte dazu definitiv nicht geeignet.

Wie kann der Assistent sich vor der unberechtigten Kritik des Chefarztes schützen? Sicherlich nicht, indem er den Chefarzt bei der Visite demütig die Akte durchblättern lässt, bis er etwas gefunden hat. Denn aufgrund der beschriebenen Wahrscheinlichkeiten hat der Assistent keine Chance, „fehlerfrei“ zu entkommen. Die einzige effektive Strategie besteht darin, die Ausgangssituation zu seinen Gunsten zu ändern. Wenn der Chef die Akte sehen will, um etwas zu überprüfen, dann sollte er den Chef fragen, wonach er denn suche oder welches Dokument er denn einsehen wolle. Würde nur dieses Dokument überprüft, dann entspräche das eher der individuellen Fehlerwahrscheinlichkeit des Assistenten. Mit jeder weiteren Suche schwinden die Chancen des Assistenten, dass der Chef keinen Fehler findet.

17.3 Hausbau

Sehr viele Menschen bauen Häuser oder lassen Häuser bauen. Und fast alle berichten von Fehlern oder Mängeln bei einem Hausbau. Das sollte uns jetzt eigentlich nicht mehr verwundern, weil wir grob abschätzen können, mit welcher Wahrscheinlichkeit bei einem Hausbau alles glatt geht. Die Wahrscheinlichkeit beträgt bei naiver Betrachtung 0 Prozent oder einfach Null. Doch warum ist das so und wie können wir unsere Chancen verbessern, in unser schönes Haus einzuziehen?

Ein Bauingenieur, der den Bau eines Einfamilienhauses betreute, wurde gefragt, wie viele relevante Entscheidungen er beim Hausbau tätigen und vorbereiten müsse. Er vermutete ungefähr 300. Als nächstes wurde er gefragt, wie zuverlässig er seine Arbeit einschätzt. Er war sehr selbstkritisch und schätzte seine gesamte Fehlerquote mit 15 Prozent ein, weil auch ihm kleine Fehler unterlaufen. Wir können jetzt für 300 Entscheidungen die Wahrscheinlichkeit berechnen, dass dem Bauingenieur überhaupt keine Fehler unterlaufen. Wir führen dazu drei Berechnungen durch, einmal mit einer Fehlerquote von 15 Prozent, beim zweiten Mal mit fünf Prozent und beim dritten Mal mit einem Fehleranteil von 1 Prozent. Im ersten Fall wäre alles richtig in (0,85)300, was 6,7*10-22 und damit praktisch einer „glatten“ Null entspricht. Selbst für (0,95)300 beträgt die Wahrscheinlichkeit für Fehlerfreiheit nur 2,1*10-7 bzw. 0,00000021. Für die schon „unmenschliche“ Genauigkeit von (0,99)300 beträgt sie immerhin noch fünf Prozent. Es ist deshalb extrem unwahrscheinlich, dass dem Bauingenieur nicht auch ein kleiner Fehler unterläuft.

Solche Wahrscheinlichkeitsberechnungen sind sehr lehrreich. Nehmen wir einmal an, wir arbeiten bei Daimler und wollen ein fehlerfreies Auto bauen. Wir unterstellen 1000 relevante Teile und alle Teile haben eine Fehlerquote von 0,1 Prozent. Wie viele Autos werden fehlerfrei sein? Es werden (0,999)1000 = 36,8 Prozent ohne Fehl und Tadel. Diese Quote wäre für Daimler zu gering. Wir müssen die Fehlerquote also weiter verringern auf 0,01 Prozent. Damit würden (0,9999)1000 = 90 Prozent fehlerfrei sein. Das reicht immer noch nicht. Erst bei einer Quote von 0,001 Prozent wären (0,99999)1000 = 99 Prozent der Autos fehlerfrei. Jetzt verstehen wir auch, warum wir heutzutage genauso häufig zur Reparatur müssen wie früher, obgleich die Zuverlässigkeit der einzelnen Teile um das Hundertfache gestiegen ist. Wenn wir wirklich ein zuverlässiges Auto suchen, dann ist ein einfacher alter Jeep zu bevorzugen, der deutlich weniger kritische Teile enthält als ein modernes elektronisch aufgerüstetes Auto.

Können wir die nicht akzeptable Fehlerquote beim Hausbau verringern? Ja, wir können. Aber durch welche Methode können wir die Fehler verringern? Durch ein ganz einfaches Verfahren: Wir müssen Kontrollen einführen. Nehmen wir einmal an, dass die Fehlerquote in einem bestimmten Prozess 20 Prozent bzw. 0,2 beträgt. So könnten die Akten in einem Büro nach der Endkontrolle immer noch zu 20 Prozent unvollständig sein. Wie hoch wäre nun die Fehlerquote, wenn wir denselben Vorgang zweimal durchlaufen lassen würden. Wir könnten zum Beispiel dieselben Akten von einer anderen Person durchsehen lassen. Wenn wir auch für den zweiten Durchgang eine Fehlerquote von 20 Prozent unterstellen, dann beträgt die gesamte Fehlerquote nur noch 0,2*0,2=0,04. Wir vermindern die Fehler durch eine weitere Kontrolle von 20 Prozent auf vier Prozent. Nach einer dritten Kontrolle  betrüge die Fehlerquote sogar nur noch (0,2)3=0,008, also 0,8 Prozent.

Aus ähnlichen Gründen werden zum Beispiel wichtige Daten pharmakologischer Studien zweimal von verschiedenen Personen erfasst und doppelt eingegeben. Wenn die Daten von jeder Person mit einer Fehlerquote von jeweils zwei Prozent eingegeben werden (p=0,02), dann beträgt die gesamte Fehlerquote 0,02*0,02=0,0004, also 0,04 Prozent. Wir lernen, dass es immer sinnvoll ist, Kontrollen einzuführen, um die gesamten Fehler zu vermindern. Diese Erkenntnis ist nicht wirklich überraschend, weil wir aus der Erfahrung wissen, dass eine Kontrolle selten schadet. Jetzt können wir aber auch berechnen, wie sich Kontrollen auf definierte Risiken auswirken.

Immer dann, wenn wir einen Ausfall von wichtigen Leistungen oder Maschinen befürchten, dann behelfen wir uns, indem wir ein zweites System parallel laufen lassen, so dass sich die Wahrscheinlichkeit eines gleichzeitigen Fehlers drastisch vermindert. Deshalb gibt es in Flugzeugen oder Kraftwerken immer ein vollständiges Zweitsystem. Wenn der Ausfall des primären Systems als gering angesehen wird, zum Beispiel mit 0,1 Prozent, dann verringert das zweite System die Wahrscheinlichkeit auf (0,001)2=0,000001. Aus ähnlichen Gründen sollten wir auch nicht allein durch die Wüste reisen. Je mehr Systeme (Kamele) durch die Wüste wandern, umso wahrscheinlicher kommen einige lebend am Ziel an. Was natürlich niemals ausschließt, dass nicht auch sehr seltene Ereignisse irgendwann eintreten. In der Umgangssprache hat sich „Murphys Gesetz“ eingebürgert, das 1949 die bekannte Weisheit in einem eingängigen Sinnspruch ausdrückte: „If anything can go wrong, it will.“ Er war Ingenieur der amerikanischen Luftwaffe und drückte seine persönliche Erfahrung bei technischen Experimenten aus. Offensichtlich hatten sie dort einen etwas schusseligen Techniker, für den galt: „If there is any way to do it wrong, he will find it.