Wahrscheinlichkeit

Wir leben in einer Welt, in der wir täglich mit Begriffen wie „Wahrscheinlichkeit“, „Risiken“ oder „Chancen“ konfrontiert werden. Redewendungen wie „das ist wahrscheinlich“, „das ist risikoreich“, „hier hast Du große Chancen“ oder „das ist ziemlich sicher“ gehen uns locker über die Zunge, ohne dass wir über die Bedeutung dieser Rede nachdenken. Wir verstehen diese Begriffe intuitiv und können uns mit ihnen im Alltag gut verständigen. Damit könnten wir uns zufrieden geben, wenn wir nicht gerade über die wissenschaftliche Methodologie nachdenken würden, denn hinter diesen Begriffen verbergen sich fundamentale Ansichten über unser Weltverständnis. Es ist äußerst wichtig, dass wir uns hier mit den verschiedenen Bedeutungen des Begriffes „Wahrscheinlichkeit“ vertraut machen.

Erst dadurch gelangen wir zu einem tieferen Verständnis, was wir von einer wissenschaftlichen Methodologie erwarten können und was nicht. Möglicherweise werden einige bereits gestutzt haben, weil wir von mehreren Bedeutungen der Wahrscheinlichkeit sprachen und nicht nur einer einzigen. Und genau das ist das Problem.

Auch wenn wir zunächst nicht sagen können, was wir genau unter Wahrscheinlichkeit verstehen, so verfügen wir doch über ein intuitives Verständnis. Wahrscheinlichkeit charakterisiert Ereignisse und keine Gegenstände. Wir sprechen nicht von einem „wahrscheinlichen“ Gegenstand, sondern nur darüber, dass ein Ereignis wahrscheinlich eintritt. Ein wahrscheinliches Ereignis zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht immer eintritt, sondern nur manchmal. Wenn es sehr selten eintritt, ist es unwahrscheinlich, und wenn es meistens eintritt, ist es sehr wahrscheinlich. Dieses plausible intuitive Verständnis mag für den Alltag genügen. Es ist aber nicht ausreichend, um irgendetwas zu berechnen. Für die moderne mathematische Statistik ist solch eine vage Erklärung nicht angemessen. Wir benötigen unbedingt eine aussagekräftigere Definition.

Auch hier kann uns ein Blick zurück in die Geschichte helfen. Deshalb wollen wir uns fragen, ob jemals eine allseits anerkannte Definition der Wahrscheinlichkeit existierte? Überraschenderweise nicht. Man betrachtete Wahrscheinlichkeiten in der Antike als äußerst minderwertig. Man suchte damals in den Wissenschaften nach definitiven Wahrheiten und nicht nach „belanglosen“ oder „vorläufigen“ Wahrscheinlichkeiten. Von den antiken Wissenschaften können wir deshalb keine Antworten erwarten. Wo aber sollen wir sonst suchen? Vielleicht werden wir bei den Spielern fündig. Für uns ist es heute selbstverständlich, Glücksspiele oder Wetten gedanklich mit Wahrscheinlichkeiten zu verknüpfen. Kein Poker- oder Roulettespieler würde langfristig „erfolgreich“ spielen können, ohne die Wahrscheinlichkeiten der einzelnen Spielzüge zu berücksichtigen. Wir können guten Gewissens unterstellen, dass niemand von uns eine unfaire Wette abschließen würde, bei der er immer verlieren würde. Da bereits in der Antike verschiedene Glückspiele wie Würfeln bekannt waren, sollte man vermuten, dass bereits die Griechen oder Römer intensiv über Wahrscheinlichkeiten nachgedacht haben, denn schließlich konnte man viel Geld dabei gewinnen. Das ist aber nicht der Fall. Es gab damals weder so etwas wie eine Wahrscheinlichkeitstheorie noch eine Mathematik der Wahrscheinlichkeit. Eine wirklich systematische Auseinandersetzung mit Wahrscheinlichkeiten ist uns nicht bekannt, was natürlich nicht ausschließt, dass die wirklich erfolgreichen Zocker der Antike nicht tatsächlich wussten, wie man Wahrscheinlichkeiten berechnete oder vielleicht auch nur intuitiv erfasste. Da die Zocker der Antike aber kein Interesse daran haben konnten, dass ihr Wissen über Wahrscheinlichkeiten allgemein bekannt wurde, wundert es auch nicht, dass wir darüber keine Aufzeichnungen finden.

Insgesamt hatte man sich in der Antike und im Mittelalter damit abgefunden, dass Unwägbarkeiten wie Wetterumbrüche oder andere Naturkatastrophen den Alltag bestimmten. Und man war sich zugleich sicher, dass eigentlich alles in der Welt bestimmten Regeln der Natur oder der Götter bzw. Gottes folgte. Wirklich Zufälliges unterlag letztlich immer einem Gottesurteil. Niemand kam damals auf die Idee, nach einer inhaltlichen Definition von Wahrscheinlichem zu suchen. Die Geburtsstunde der Wahrscheinlichkeitsrechnung wird zwar mit einem Briefwechsel angegeben, aber der eigentliche Durchbruch hatte einen wirtschaftlichen Hintergrund. Damals wollten die Händler wissen, wie sinnvoll die Investitionen in bestimmte gefährliche Handelsrouten waren, die von Piraten, Kriegen oder gefährlichem Wetter beeinflusst wurden. Es war das Versicherungswesen, das rasch erkannte, welche Macht in einer korrekten Wahrscheinlichkeitsberechnung lag.

Als man in der Neuzeit begann, sich systematisch mit Wahrscheinlichkeiten zu beschäftigen, schälten sich mehrere Herangehensweisen heraus, die zu unüberbrückbaren Diskrepanzen führten. Auch heute sind die Statistiker weit davon entfernt, über dasselbe zu sprechen, wenn sie über wahrscheinliche Ereignisse reden. Diese Unbestimmtheit sollte uns eigentlich verwundern, denn als Laien hätten wir ein gemeinsames Verständnis unterstellt, zumal alle so selbstbewusst mit Wahrscheinlichkeiten rechnen. Wie lässt sich dieser Widerspruch erklären? Es existiert zwar ein allgemein anerkanntes mathematisches Kalkül, basierend auf drei einfachen Axiomen, aber eine inhaltliche Bestimmung der Wahrscheinlichkeit findet sich dort nicht. Die Mathematiker unterstellen einfach, dass wir wissen, was Wahrscheinlichkeit bedeutet, und sie demonstrieren lediglich, dass wir damit konsistent und widerspruchsfrei rechnen können. Wahrscheinlichkeit wird im mathematischen Kalkül einfach als undefinierter Grundbegriff verwendet. In der Wahrscheinlichkeitsrechnung berechnen wir demnach etwas, aber wir wissen nicht genau was. Wir reden über Wahrscheinlichkeit, wissen aber nicht genau, wie wir sie interpretieren sollen. Das ist doch kaum zu glauben?

16.2 Klassische Definition

Blicken wir erneut in die Vergangenheit zurück und betrachten wir den Ursprung der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Dieser wird allgemein auf das Jahr 1654 datiert, denn in diesem Jahr korrespondierten die Mathematiker Blaise Pascal und Pierre de Fermat über die Gewinnchancen beim Würfelspiel. Später definierte Pierre-Simon Laplace die Wahrscheinlichkeit als ein Verhältnis von zwei Häufigkeiten: die Ereignisse, die uns interessieren, und die Gesamtmenge aller Ereignisse überhaupt. Wenn wir zum Beispiel einen sechsseitigen Würfel betrachten, dann haben wir sechs Möglichkeiten, eine bestimmte Zahl zu würfeln. Die Gesamtmenge  beträgt also sechs. Wie hoch ist jetzt die Wahrscheinlichkeit, exakt eine Zwei zu würfeln. Da wir genau ein einziges Ereignis betrachten, wäre die Wahrscheinlichkeit 1/6, weil „Ereignisse/Gesamtmenge“ gilt.

Diese Definition „Ereignisse/Gesamtmenge“ steht in fast allen Lehrbüchern zur Einführung in die Wahrscheinlichkeitsrechnung und sie wird immer an Beispielen von Münzen, Würfeln und Urnen erläutert. Wir wollen das an weiteren Beispielen vertiefen. Wir werfen eine Münze, bei der auf der einen Seite eine Brücke und auf der anderen Seite eine Zahl eingeprägt ist.

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Brücke oben liegt? Wir werden sofort sagen: 50 Prozent. In der Hälfte der Fälle liegt die Brücke oben und in der anderen Hälfte die Zahl. Es gibt immer ein einziges Ereignis von zwei Möglichkeiten, so dass die Wahrscheinlich ½ beträgt. Stellen wir uns eine Kiste mit 100 Bällen vor, von denen 99 weiß und einer schwarz ist. Wir schließen die Augen und nehmen einen Ball aus der Kiste. Wie wahrscheinlich ist es, dass wir den schwarzen Ball in den Händen halten? Die Lösung springt uns in die Augen: 1/100 oder 1 Prozent.

Kehren wir jetzt zu unserem Würfel zurück. Wie wahrscheinlich ist es, eine Zwei oder eine Drei zu würfeln. Wenn wir mit einem sechsseitigen Würfel einmal würfeln, dann gibt es sechs Möglichkeiten. Wenn wir eine Zwei würfeln wollen, dann beträgt die Wahrscheinlichkeit 1/6. Und wenn wir eine Drei würfeln wollen, dann beträgt sie ebenfalls 1/6. Das macht für beide zusammen 2/6 bzw. 1/3. Eigentlich klingt diese Laplace’sche Definition doch einfach, brauchbar und intuitiv richtig. Es gibt keinen offensichtlichen Grund, dieser bestechenden Logik nicht zuzustimmen, dass Wahrscheinlichkeiten nichts anderes als das Verhältnis der beiden Häufigkeiten sind.

Aber leider sind abstrakte Urnen- oder Würfelbeispiele nicht wirklich hilfreich, um uns im Alltag oder in der Wissenschaft zu unterstützen, wie wir gleich erkennen werden. Wir unterstellen nämlich stillschweigend in allen Beispielen, dass die angeführten Ereignisse immer gleich wahrscheinlich sind. Wir unterstellen hier Idealbedingungen, die real nicht erfüllbar sind. Wir unterstellen im Modell „Würfeln“, dass alle Zahlen immer gleich häufig gewürfelt werden, aber ob das auch zutrifft, wissen wir nicht. Uns könnte ja ein Falschspieler gegenübersitzen, der unsere Gutgläubigkeit ausnutzt, einen manipulierten Würfel verwendet und damit die Wahrscheinlichkeiten zu seinen Gunsten verfälscht. Dasselbe gilt natürlich auch für den Münzwurf. Auch hier unterstellen wir, dass Kopf und Zahl gleich häufig fallen.

Zusätzlich bleibt eine praktische Komponente unberücksichtigt, die ebenfalls unser Verständnis über Wahrscheinlichkeiten beeinflusst. Wenn wir mit jemandem spielen, eine Münze zu werfen, dann reicht es nicht aus, einfach mit dem Spiel zu beginnen. Wir müssen vielmehr vor dem ersten Münzwurf Regeln festlegen, wann der Wurf als gültig zu betrachten ist. Sollte zum Beispiel die Münze auf der Kante liegen, dann werden wir den Wurf als ungültig werten. Es könnte auch sein, dass wir festlegen, dass die Münze mindestens 50 cm in die Luft geworfen werden muss, dass sie mit der Hand gefangen werden muss oder auf einem Tisch landen muss. Welche Regeln wir auch immer vereinbaren, die Wahrscheinlichkeit von 0,5 bzw. 50 Prozent bzw. ½ akzeptieren wir nur für gültige Würfe mit einer symmetrischen, nicht manipulierten Münze. Die Laplace Definition der Wahrscheinlichkeit ist deshalb so bestechend, weil sie so einfach ist. Sie beruht aber auf theoretischen Erwägungen über die Gleichhäufigkeit von Ereignissen, die nicht realistisch sind. Die klassische Definition zeigt uns lediglich für sehr konstruierte Fälle, wie wir die Wahrscheinlichkeit aus unterstellten Häufigkeiten berechnen können.

Aus dieser unbefriedigenden Situation entwickelten sich in der Folge zwei verschiedene Schulen, die die Wahrscheinlichkeit über Jahrhunderte nicht nur unterschiedlich interpretierten, sondern die zum Teil auch zu unverträglichen Schlussfolgerungen gelangten. An einer kleinen Geschichte wollen wir verdeutlichen, wie relevant die „richtige“ Interpretation der Wahrscheinlichkeit sein kann. Stellen wir uns vor, wir sind als Arzt im Krankenhaus beschäftigt. Eine 75jährige rüstige Dame mit einem kleinen Darmkrebs wird aufgenommen. Da die Dame neben einem gut eingestellten Bluthochdruck und einer Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) keine weiteren Risikofaktoren aufweist, wird ihr die operative Entfernung des Tumors empfohlen, um sie vom Krebsleiden zu heilen. Nach der üblichen Operationsaufklärung fragt die Patientin besorgt, ob sie einen künstlichen Darmausgang bekäme und wie hoch das Risiko für ein Problem mit der Darmnaht sei. Wir teilen ihr mit, dass ein Darmausgang nur in sehr seltenen Fällen angelegt werde und ein lebensbedrohlicher Nahtbruch auch nur selten auftrete. Die Patientin lässt nicht locker und bittet, die Begriffe „sehr selten“ und „selten“ zu präzisieren. Daraufhin geben wir das Risiko für einen künstlichen Darmausgang mit 1:1000 und das Risiko für einen gefährlichen Nahtbruch mit 1:20 an.

Durch diese Präzisierung ist sie offensichtlich beruhigt, aber ihre geisteswissenschaftlich gebildete und besorgte Tochter will wissen, woher wir denn so genau wüssten, wie hoch das Risiko bei ihrer Mutter sei. Wir erklären ihr, dass dieses die allgemein bekannten Wahrscheinlichkeiten aus der Literatur seien, die auch der eigenen Erfahrung entsprächen. Sie erwidert daraufhin, dass sie nicht wüsste, was diese präzisen Wahrscheinlichkeiten bei ihrer Mutter bedeuten sollten. Die Tochter fragt, wodurch wir sicher sein könnten, dass bei ihrer Mutter genau diese und keine anderen Wahrscheinlichkeiten zutreffen würden.

Damit trifft die Tochter natürlich einen wunden Punkt. Die genannten Wahrscheinlichkeiten sind allesamt der Literatur entnommen, die Patienten aller Altersgruppen mit unterschiedlichen Erkrankungen zusammenfasst. Niemand würde aber ernsthaft auf die Idee kommen, dass das Risiko für einen sehr kranken 85jährigen Patienten mit einem relativ gesunden 50jährigen Patienten vergleichbar ist. Dennoch werden die Wahrscheinlichkeiten als relative Häufigkeiten aus solchen umfangreichen Populationen entnommen. Wenn wir das Risiko bzw. die Wahrscheinlichkeit einer Komplikation bei einem konkreten Patienten verlässlich angeben wollten, dann müssten wir die individuelle Situation berücksichtigen. Die Tochter bemängelt zu Recht, wie wir es wagen könnten, uns nur auf die relativen Häufigkeiten aus Sammelstatistiken zu beziehen, um das individuelle Risiko ihrer Mutter zu bestimmen.

16.3 Frequentismus

Wenden wir uns nun der ersten Interpretation zu, die auch statistische, frequentistische oder objektivistische Wahrscheinlichkeit genannt wird. Sie entwickelte sich aus der Laplace’schen Definition und wurde im letzten Jahrhundert von Richard v. Mises und Hans Reichenbach im Detail ausgearbeitet. Nach ihr ist die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses die relative Häufigkeit, mit der es in einer großen Anzahl gleicher, wiederholter Experimente bzw. Versuche auftritt. Wenn wir also unendlich häufig mit einem sechsseitigen Würfel würfeln, dann wird auf lange Sicht die Wahrscheinlichkeit einer Zahl zu 1/6 konvergieren. Dies schließt natürlich nicht aus, dass bei den ersten vier Würfen jedes Mal eine Eins gewürfelt wird, noch dass bei 10.000 Würfen die Wahrscheinlichkeit von 1/6 minimal abweicht. Aber wenn wir theoretisch unendlich oft spielen, dann stabilisiert sich der Wert bei 1/6. Der Grenzwert der Häufigkeit einer unendlichen Reihe ist somit die gesuchte Wahrscheinlichkeit.

Diese Interpretation der Wahrscheinlichkeit als relative Häufigkeit (frequency) wird heute in der wissenschaftlichen Welt unterstellt und als unproblematisch empfunden. Der Grund liegt in dem Weltbild der modernen Wissenschaften. Die Wissenschaftler glauben, dass es eine vom Menschen unabhängige Realität zu entdecken gibt und dass die Aufgaben der Wissenschaften darin bestehen, diese Realität zu erforschen, die realen Objekte mit ihren Eigenschaften zu beschreiben und ihre Gesetzmäßigkeiten zu enträtseln. Wenn der Wissenschaftler nach 100 Messungen feststellt, dass der Gegenstand 37±0,5 kg wiegt, dann vermutet er, dass sich das tatsächliche Gewicht nach weiteren Messungen in diesem Bereich stabilisiert, um uns bei theoretisch unendlich vielen Messungen das genaue Gewicht zu verraten. Es ist nur eine Frage der pragmatischen Sparsamkeit, dass wir nach einigen Messungen aufhören und uns mit einer für die praktischen Zwecke ausreichenden Messgenauigkeit zufrieden geben. Das klingt doch plausibel, oder? Allerdings sehen die statistischen Spezialisten diese Definition als gescheitert an, weil sich aus der Konvergenz von Häufigkeiten nicht logisch notwendig der Grenzwert ergibt. Wir bleiben tatsächlich nur bei einer praktischen Sicherheit stehen, die je nach Interessenlage unterschiedlich ausgeprägt ist.

Dieser Wahrscheinlichkeitsbegriff scheint auf den ersten Blick genau das richtige Instrument für die wissenschaftliche Betrachtungsweise zu sein, denn wir streben nach objektiven, von Menschen unabhängigen Erfahrungen. Wir suchen Häufigkeiten, die gezählt werden können. Von diesen gemessenen Häufigkeiten schließen wir dann auf die Realität. Da die Häufigkeiten einen festen Objektbezug zu haben scheinen, wird der Begriff nicht nur „frequentistisch“, sondern auch „objektivistisch“ genannt. Es wird immer suggeriert, dass wir uns bei dieser Verwendung auf die Realität beziehen und die „objektive“ Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses erfassen können. Wahrscheinlichkeit wird so als ein Merkmal von Ereignissen aufgefasst, das etwas mit beobachtbaren relativen Häufigkeiten zu tun hat.

Bei der kurzen Beschreibung der frequentistischen Sichtweise sollte uns etwas aufgefallen sein. Wir haben zu keinem Zeitpunkt etwas über einzelne Individuen gesagt? Alles betraf immer nur Gruppen oder Häufigkeiten in einer größeren Population. Es ging um den Regelmenschen und nicht um das konkrete Individuum. Jetzt verstehen wir auch die Tochter, die die Wahrscheinlichkeiten über die Risiken bei der Operation nicht interpretieren konnte. Die Ärzte hatten das Risiko mit 1:1000 bzw. 1:20 angegeben. Nach der frequentistischen Interpretation könnten wir der Tochter höchstens sagen, dass diese Wahrscheinlichkeiten sich abbilden würden, wenn wir ihre Mutter unter denselben Bedingungen unendlich häufig operieren würden. Die Tochter würde uns zu Recht völlig verständnislos anschauen, wenn wir ihr diese Erklärung anbieten würden. Sie besteht darauf, dass man ihr das konkrete Risiko für die Operation mitteilt und nicht das Risiko für unendlich viele Operationen.

Wählen wir ein weiteres Beispiel, um uns die theoretischen Annahmen des Frequentismus zu verdeutlichen. Auf einer Party teilte uns eine gute Freundin mit, dass sie schwanger ist. Sie fragte eine Hebamme, die gerade neben ihr stand, wie wahrscheinlich sie einen Knaben gebären wird. Die Hebamme sagte, dass die Wahrscheinlichkeit 51 Prozent beträgt. Wir glauben die Angabe nicht und überprüfen die Ergebnisse der letzten 1000 Geburten eines Krankenhauses. Wir finden 521 Knaben und 497 Mädchen. (Die Summe ist hier natürlich wegen der Mehrlingsgeburten größer als 1000.) Bestätigt dieses Ergebnis die Angabe der Hebamme oder ist die Wahrscheinlichkeit größer?

Diese Frage könnten wir uns von einem Statistiker beantworten lassen, der unsere Problemstellung in folgendes Modell übersetzt: Gegeben sind 1000 Urnen. Jede Urne enthält 100 Kugeln und 51 sind davon weiß. Aus jeder der 1000 Urnen wird eine Kugel gezogen. Eine empirische Überprüfung zeigt 521 weiße Kugeln. Unter der Annahme der Hypothese, dass die Wahrscheinlichkeit für weiße Kugeln 51 Prozent beträgt und bei einer Quote an Mehrlingsschwangerschaften von 1,2 Prozent, ist das Ergebnis von 521 Kugeln akzeptabel. – Solche Urnenmodelle und die komplexe Mathematik, die sich dahinter verbirgt, mögen Gründe sein, warum sich so wenige Menschen für Statistik erwärmen können. –

Ist die obige Frage damit befriedigend beantwortet? Ja und Nein. Zunächst einmal verstimmt uns dieses Modell emotional, weil 1000 Schwangerschaften in 1000 Urnen transformiert wurden, was den Schwangeren kaum gefallen dürfte, und aus den liebenswerten Neugeborenen wurden glatte weiße Kugeln. Dem Statistiker ist es egal, ob wir Menschen oder Kugeln betrachten, weil es für seine mathematischen Modelle irrelevant ist. Aber selbst wenn wir unsere Emotionen unterdrücken und wenn der Statistiker das richtige Modell ausgewählt und korrekt gerechnet hätte, wäre die Antwort nicht zufriedenstellend. Wir wissen dann nämlich nur, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, wenn extrem viele Frauen Kinder gebären. Da unsere Freundin nicht extrem viele Kinder bekommen möchte und sie eigentlich nur die Wahrscheinlichkeit für ihre gegenwärtige Schwangerschaft wissen wollte, können wir nur anerkennend zugestehen, dass wir das nicht wissen. Wir kennen nicht das Ergebnis für die „unendliche Reihe“ einer bestimmten Frau. Ja selbst für alle Frauen sind die Ergebnisse fraglich. Wir verfügen insgesamt nur über eine relative Sicherheit bei einer sehr großen Zahl an vergleichbaren Wiederholungen. Aber vielleicht gehört unsere Freundin mit ihrem Lebensgefährten zu den Paaren, die nur Töchter oder nur Söhne gebären – aus welchen Gründen auch immer. Die Frage, die unsere Freundin der Hebamme stellte, ist mit der frequentistischen Interpretation nicht zu beantworten.

Die frequentistische Sichtweise ist in der Medizin oder in den Wirtschafts- oder Sozialwissenschaften kaum geeignet. Niemand kennt medizinische, soziologische oder wirtschaftliche Häufigkeiten, die auf einer exakten Wiederholung von sehr vielen Versuchen basieren. Wir haben es hier nicht mit unendlichen Urnen zu tun, sondern mit Menschen, mit Schwangerschaften, komplexen wirtschaftlichen oder sozialen Objekten. Und es geht auch nicht um glatte, einfarbige Kugeln, sondern um sehr komplizierte Sachverhalte, die die Ergebnisse in vielen Facetten modulieren. Es wundert deshalb nicht, dass die meisten Studienergebnisse aus diesen Bereichen nur mit einer hohen Ungewissheit übertragbar sind oder von vornherein in Frage gestellt werden. Hinzu kommt, dass wir unsere Versuchsreihen in der Regel so klein wie möglich wählen, um Ressourcen zu sparen. Wir sind damit ganz weit von dem angestrebten Grenzbegriff entfernt, der oben unterstellt wird. Wenn wir jetzt noch bedenken, dass wir uns häufig für Einzelereignisse interessieren, dann wird diese Interpretation noch fragwürdiger. Sollen wir der älteren Dame im obigen Beispiel etwa ernsthaft sagen, dass zu ungefähr fünf Prozent ein Bruch der Darmnaht auftritt, wenn wir sie 1000mal operieren würden?

16.4 Subjektivismus

Wir wenden uns jetzt der zweiten Interpretation zu, die subjektivistische oder personale Wahrscheinlichkeit genannt wird. Sie fußt auf den Überlegungen von Thomas Bayes (1702-1761) und wurde im letzten Jahrhundert von Bruno de Finetti zu einer echten Konkurrenz entwickelt. Bei diesem Wahrscheinlichkeitsbegriff wird von vornherein keine objektive Wahrscheinlichkeit gesucht, die es genau zu erfassen gilt. Es wird nicht unterstellt, dass eine objektive Realität erkannt werden soll. Es wird nicht unterstellt, dass die Ereignisse per se eine bestimmte, uns unbekannte Wahrscheinlichkeit aufweisen. Der Ausgangspunkt dieser zweiten Interpretation ist vielmehr unser subjektiver Grad an Ungewissheit, unser Glaube an ein Ereignis. Je nachdem, wie überzeugt wir von etwas sind oder wie stark wir etwas bezweifeln, schätzen wir die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses unterschiedlich ein. Wir legen unsere Kenntnisse zu Grunde, die wir über den Sachverhalt haben, und bewerten danach, ob das Ereignis sicher oder weniger sicher eintreten wird. Wir nutzen dazu alle verfügbaren Informationen sowie die persönlichen Erfahrungen, um die Unsicherheit des Ereignisses abzuschätzen. Da jeder Mensch über unterschiedliches Wissen verfügt, unterstellen wir nicht, dass alle Menschen die Wahrscheinlichkeit desselben Ereignisses gleichartig bewerten. Ja, selbst wenn wir uns auf dieselben Informationen stützen, werden wir das Risiko oder die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses manchmal unterschiedlich einschätzen.

Der Vorteil dieser Interpretation ist bestechend, denn sie beschreibt sehr gut unseren täglichen Umgang mit Unsicherheiten. Menschen sind nämlich sehr vorlaut und haben immer eine Überzeugung parat, die fundiert sein mag oder nicht. Wir sind bereit, über alles zu reden und Vermutungen anzustellen. Unsere Überzeugungen sind dabei nicht statisch festgelegt, sondern sie ändern sich, wenn neue Informationen verfügbar werden.

Wir lernen aus jeder sich uns darbietenden neuen Erfahrung, nehmen die Informationen auf und bewerten die Situation neu. Auf diese Weise wirken sich persönliche Erfahrungen stärker aus als die Erfahrungen anderer. Manchmal sind wir auch so überzeugt von uns, dass wir unsere persönlichen Überzeugungen über den Sachverstand von Experten stellen.

Es gab von Beginn an große Vorurteile gegen diese Interpretation der Wahrscheinlichkeit, die so wenig mathematisch anmutet. Glaubensgrade erscheinen auf den ersten Blick schlechter quantifizierbar als Häufigkeiten. Es ist dem Mathematiker Bruno de Finetti zu verdanken, diese subjektive Auffassung sehr gut präzisiert zu haben. Wir können nämlich unseren Grad an Gewissheit dadurch zum Ausdruck bringen, wie hoch wir bereit wären, eine Wette auf ein Ereignis abzuschließen. Und damit wäre der Glaube quasi als Wettquotient wieder quantifizierbar. Durch den Wettquotienten können wir mit der subjektiven Wahrscheinlichkeit auch rechnen, vorausgesetzt wir verhalten uns beim Wetten kohärent. Dadurch erfüllt die subjektivistische Interpretation genauso das mathematische Kalkül wie die objektivistische Betrachtungsweise.

Natürlich würden wir bei unseren Wetten alle verfügbaren Informationen berücksichtigen, denn wir wollen ja schließlich gewinnen. Informationen über relative Häufigkeiten aus sorgfältigen Studien hätten dabei natürlich einen sehr hohen Stellenwert. Aber auch die eigene oder fremde Erfahrung, widersprüchliche Informationen aus den Studien und die Verlässlichkeit der verfügbaren Informationen würden in unsere gesamte Beurteilung integriert. Jede subjektive Beurteilung beruht so auf kluger Abwägung, Vernünftigkeit und Berechnung.

Blicken wir zurück auf unser Beispiel aus dem Krankenhaus. Wie können wir jetzt unsere Wahrscheinlichkeit interpretieren und was teilen wir der Mutter und Tochter mit? Wir drücken letztlich unsere persönliche Überzeugung aus und berücksichtigen dabei selbstverständlich, dass wir auf eine kranke 85jährige Patientin weniger wetten würden als auf eine gesunde 50jährige Patientin. Wobei wir beide Wetten gewinnen oder verlieren können. Es wäre für Patienten vor Operationen viel sinnvoller, den Operateur zu fragen, wie viel er auf einen komplikationslosen Verlauf wetten würde, als nach irgendwelchen Häufigkeiten zu fragen. Solch ein Gedankengang ist sicherlich gewöhnungsbedürftig, weil wir vorher kaum vermutet hätten, dass die medizinische Behandlung sich nach Wetten richtet. Die Ärzte werden sicherlich protestieren, dass Krankenhäuser mit Wettbüros verglichen werden, denn schließlich herrscht hier medizinischer Sachverstand! Aber Sachverstand beherrscht auch die Rennbahn, Sportveranstaltungen oder Versicherungsgesellschaften. Ohne Sachverstand wird man die Wetten langfristig verlieren.