Die Mission

Im Beruf, beim Lesen, im Internet, im Gespräch oder beim Fernsehen werden wir mit Argumenten konfrontiert, die wir glauben sollen und die angeblich abgesichert sind. Einige Argumente werden durch die Eigenschaft „wissenschaftlich“ besonders ausgezeichnet. Sie erhalten ein Qualitätssiegel, das bewusst dazu verwendet wird, uns zu überzeugen. Mit dem zusätzlichen Gebrauch von „wissenschaftlich“ werden Argumente gezielt unterstützt, um unsere möglichen Zweifel schlagartig auszuräumen. Wir haben in den letzten Jahrhunderten gelernt, mehr Vertrauen in Argumente zu investieren, wenn sie wissenschaftlich überprüft oder untersucht wurden.

Dieses vermehrte Vertrauen gegenüber wissenschaftlich abgesichertem Wissen darf aber kein grenzenloses, blindes Vertrauen sein. Wir sollten verstehen, worauf dieses Vertrauen beruht, und dann ganz konkret prüfen, ob dieses Vertrauen auch gerechtfertigt ist. Auch wissenschaftlich abgesicherte Argumente können nämlich völlig falsch sein. Das mag uns auf den ersten Blick vielleicht verwundern, aber ein zweiter kurzer Blick in unsere Geschichte belehrt uns eines Besseren. Vor einigen Jahrhunderten wussten wir ganz sicher, dass die Sonne sich um die Erde dreht. Es war wissenschaftlich abgesichert, dass die Erde im Mittelpunkt des Universums steht und sich alles um die Erde dreht. Es bestand kein ernsthafter Zweifel daran, denn schließlich sahen die Menschen jeden Tag wie die Sonne wanderte. Vor wenigen Jahrhunderten waren weder Bakterien noch Viren bekannt, so dass äußerst gewagte und völlig falsche Erklärungen für die sehr häufigen Infektionserkrankungen existierten, die alle als gesichert galten. Viele Menschen wurden damals fälschlicherweise angeklagt, gefoltert oder hingerichtet, weil sie angeblich für eine Infektionskrankheit wie die Pest verantwortlich gewesen sein sollten. Wir sollten nicht hoffen, dass der gesunde Menschenverstand uns leiten wird, die guten von den schlechten Argumenten zu trennen, oder dass er uns vor krassen Fehlurteilen schützt. Früher haben gebildete Personen Tierprozesse geführt und dabei unter anderem Schweine wegen Mordes verurteilt oder Hähne wegen Hexerei angeklagt, weil sie ein Ei gelegt haben sollen. Unser so hoch geachteter Verstand lässt uns manchmal im Stich, so dass wir völlig abstruse Erklärungen glauben und danach handeln.

Worauf basiert unser gegenwärtiges Vertrauen, wenn wir von wissenschaftlich abgesicherten Erkenntnissen sprechen? Warum fordern wir heute, dass die relevanten Informationen vor wichtigen Entscheidungen wissenschaftlich überprüft wurden? Warum verlassen wir uns nicht einfach wie früher auf die Erfahrung von Autoritäten, auf die geschriebenen und tradierten Weisheiten unserer Ahnen oder auf unsere persönlichen Intuitionen? Die Antwort ist einfach: weil wir uns nachweislich häufiger irren würden, wenn wir uns nicht auf wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse beziehen, sondern stattdessen weniger objektive und fragwürdigere Erkenntnisquellen nutzen. Die wissenschaftlichen Methoden haben ihre Schranken und Schwächen, aber es sind die besten Methoden, über die wir gegenwärtig verfügen, um zu verlässlichem Wissen zu gelangen. Und wir wollen hier beschreiben, worauf diese Methoden beruhen und wie man mit ihnen gewissenhaft umgeht. Was allerdings nicht bedeutet, dass man diese Methoden nicht auch falsch oder schlampig anwenden kann oder sie gezielt einsetzt, um zu betrügen.

1.1 Voraussetzung

Wer solch ein Buch in die Hand nimmt und es durchblättert, hat eigentlich schon die erste Hürde genommen und seine Neugierde bewiesen. Der Leser wird aber wissen wollen, ob sich die Zeit lohnt, dieses Buch tatsächlich zu lesen. Er wird wissen wollen, was vorausgesetzt wird, was er erwarten kann und wie er am Ende belohnt wird. Allen drei Fragen werden wir uns jetzt widmen.

Was wird vom Leser erwartet? Zunächst einmal nicht mehr als eine natürliche Neugierde und ein unkompliziertes Interesse an wissenschaftlichen Fragestellungen. Verlangt wird ein gesunder und kritischer Menschenverstand, der sich nicht durch einfache Tricks hinters Licht führen lässt, sondern der bereit ist, die einzelnen Argumente sorgfältig abzuwägen. Wer blind und bedingungslos anderen Menschen vertraut, weil sie etwas behaupten, oder wer einfach an etwas glaubt, weil es irgendwo geschrieben steht, der ist für dieses Buch ungeeignet und sollte es nicht lesen. Was hier erwartet wird, ist eine generelle Skepsis gegenüber vermeintlich sicherem Wissen. Immer wenn jemand besonders intensiv und vehement behauptet, dass er etwas ganz genau und ganz gewiss weiß, sollten wir skeptisch reagieren. Unser Zweifel sollte darin münden, dass wir nachfragen, woher er das denn so genau weiß bzw. wie er zu dem sicheren Wissen gelangt ist. Jemand, der von seiner Grundeinstellung nicht skeptisch ist, sondern alles glaubt, was gedruckt oder in anderen Medien veröffentlicht wurde, der sollte zu anderen Büchern greifen.

Zusätzlich zu einer minimalen Skepsis wird ein gewisses Durchhaltevermögen erforderlich werden, was für Mediziner eigentlich kein Problem sein sollte. Da die Argumentationen meistens aufeinander aufbauen, kann das Buch nicht von hinten nach vorn gelesen werden. Wenn jemand einzelne Abschnitte überspringt, dann könnten Verständnisschwierigkeiten auftreten. Es wird deshalb dazu geraten, es von vorn nach hinten zu lesen. Da die Dichte der Argumente hier höher sein wird als in der Unterhaltungsliteratur, werden wir uns gelegentlich beim Lesen und beim Nachdenken über das Gelesene anstrengen müssen. Vielleicht wird es auch erforderlich, den einen oder anderen Abschnitt noch einmal zu lesen. Das soll uns aber nicht abschrecken, denn für die Mühe, die wir dabei aufbringen müssen, werden wir reichlich belohnt. Anstrengen müssen wir uns jedenfalls, denn ohne eine gewisse Mühe werden wir uns nicht weiterentwickeln. Und dass das hier ein interessanter Unterhaltungsroman ist, den wir im müden Zustand als Bettlektüre genießen werden, würde uns sowieso keiner glauben.

Was nicht erwartet wird, sind Kenntnisse in höherer Mathematik, Logik oder gar Wissenschaftstheorie. Die vier Grundrechenarten und ein wacher Verstand sind zum Verständnis völlig ausreichend. Einige mögen sich darüber wundern, warum wir von vornherein auf die gesamte komplizierte Mathematik verzichten können. Die Antwort ist auch dieses Mal einfach: weil wir heutzutage exzellente Computerprogramme haben, die uns die Rechenarbeit abnehmen. Wenn wir ein ausreichendes Verständnis über die Methoden gewonnen haben, dann können wir die Berechnung mit gutem Gewissen den überall verfügbaren Softwareprogrammen überlassen. Heutzutage würde auch keiner mehr auf die Idee kommen, 100 Zahlen mit der Hand zu addieren. Wir verwenden Taschenrechner oder geben die Daten in ein Tabellenkalkulationsprogramm ein.

Stellen wir uns folgendes Szenario vor: Sie suchen an einem kalten Dezembertag in einem großen Einkaufszentrum Weihnachtsgeschenke für Ihre Familie. Nach erfolgreicher „Jagd“ kehren Sie mit Ihrer „Beute“ zu Ihrem Auto zurück, das Sie in einem Parkhaus abgestellt haben. Ein älterer Herr nähert sich Ihnen und bittet Sie um Starthilfe, weil sein alter Nissan nicht mehr anspringt. Er sagt, das wäre bereits kürzlich schon einmal geschehen, so dass er eine leere Batterie als Ursache vermutet. Können Sie dem Mann helfen und ihm Starthilfe geben, damit sein Auto wieder anspringt? Wahrscheinlich wird es Ihnen so gehen wie den meisten Personen. Sie würden die Frage bejahen, aber zugleich nach der Gebrauchsanweisung im Auto suchen? Dort steht nämlich genau beschrieben, welches Kabel an welcher Stelle in welcher Reihenfolge anzuschließen ist, damit kein Auto Schaden nimmt.

Sollten Sie die Frage nach der Starthilfe bejahen können, dann können Sie auch erfolgreich dieses Buch studieren, denn es kann wie eine Gebrauchsanweisung gelesen werden. Sollten Sie aber noch nicht ausreichend von Ihren geistigen Fähigkeiten überzeugt sein, weil es zu einfach klingt, um wahr zu sein, werden wir jetzt einen schwereren Test wählen. Stellen Sie sich vor, Sie haben gerade einen neuen Fernseher gekauft. Können Sie den Fernseher gemäß der beiliegenden Gebrauchsanweisung anschließen? Können Sie die Batterien in die Fernbedienung legen und den Fernseher dann so konfigurieren, dass Sie tatsächlich die Fernsehkanäle sehen, die Sie sehen wollen? Wenn Sie diese Frage mit „ja“ beantworten können, dann sind Sie bereits überqualifiziert für dieses Buch. Wenn Sie sogar noch einen DVD-Spieler anschließen können, dann ist der Erfolg mehr als garantiert. Ja, dieses Buch wird Sie unterfordern – aber Sie sollten es dennoch lesen.

1.2 Erwartung

Dieses Buch wurde in erster Linie aus dem Grund geschrieben, die vordergründige Missempfindung oder gar die Abscheu gegenüber wissenschaftlichen Methoden abzubauen. Die Überfrachtung der wissenschaftlichen Methodik mit unverständlichen Begriffen, eingebettet in komplexe mathematische Formeln, hat dazu geführt, dass viele Personen es strikt vermeiden, sich mit modernen wissenschaftlichen Methoden vertraut zu machen. Komplexe Überprüfungsverfahren erscheinen so verwirrend, dass wir eher Täuschungsversuche hinter ihnen vermuten als mehr Transparenz. Allein die Verwendung von Begriffen wie „Statistik“ oder „statistisch“ führt bei einigen Personen zur reflexartigen Abwehr und manchmal auch zu Übelkeitsattacken.

Hinzu kommt, dass wir mögliche Irrungen und Wirrungen als Laien nicht wirklich durchschauen. Komplexe Analysen erscheinen uns zunächst als sehr verdächtig, obwohl sie fast immer erforderlich sind und meistens völlig korrekt durchgeführt wurden. Aber weil wir uns mit den Methoden nicht auskennen, bleibt unser Misstrauen bestehen. Zusätzlich wird unsere Skepsis genährt durch Sprüche wie: „Traue keiner fremden Statistik, sondern nur der eigenen.“ oder „Traue keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast.“.

Dieses allgemeine Misstrauen ist nicht angebracht und die unterstellten Vermutungen über grundsätzliche Betrügereien sind schlichtweg falsch, denn sonst würde es wohl kaum dieses Buch geben. Es gibt zwar auch Bücher darüber, wie wir durch Statistik lügen und betrügen können. Aber wenn wir den Inhalt dieser Bücher genauer betrachten, beschreiben die Verfasser eher, in welcher Art und Weise die „Lügner“ und „Betrüger“ gegen anerkannte wissenschaftliche Methoden verstoßen. Wir werden hier die korrekten Methoden vorstellen und zugleich auf mögliche Fallstricke eingehen. Aus den negativen Beispielen können wir dann lernen, wie wir nicht vorgehen sollten. In diesem Buch wollen wir unter anderem erlernen, wie wir uns nicht durch einfache Tricks täuschen lassen. Damit können wir natürlich nicht ausschließen, dass versierte Betrüger uns gezielt und bewusst täuschen, indem sie sich komplizierter Tricks der Statistik bedienen. Solche Betrüger können nur von Fachleuten entlarvt werden, die die angewendeten publizierten Methoden und Daten überprüfen. Ob ein Betrüger erfolgreich ist,  hängt letztlich von den Fähigkeiten des Betrügers und des Betrogenen ab. Wer als Betrogener nicht vorsichtig und umsichtig ist, wer nicht skeptisch ist und wer die Behauptungen nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft, der macht es den Betrügern allzu leicht.

1.3 Belohnung

Dieses Buch wurde für diejenigen geschrieben, die eine systematische Einführung in die Sinnhaftigkeit und Struktur wissenschaftlicher oder statistischer Methoden suchen, es aber bisher nicht gewagt haben, sich mit diesen auseinander zu setzen.

Wir werden an einfachen Beispielen die Grundbegriffe moderner wissenschaftlicher Methoden erläutern. Es werden praktische Vorgehensweisen erklärt, um die Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit von Informationen zu beurteilen. Es werden die grundlegenden Vorgehensweisen wissenschaftlicher Methoden schrittweise eingeführt, so dass jeder in die Lage versetzt wird, die ersten selbständigen Schritte zur eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit zu wagen. Es werden komplexe Probleme verständlich analysiert, so dass auch umfangreiche Probleme lösbar erscheinen. Letztlich wird eine Einführung in die wissenschaftliche Vorgehensweise geboten, die im Alltag und wissenschaftlichen Betrieb erforderlich ist, um unserer heutigen Welt kritisch gegenübertreten zu können. Und wenn Sie dann wissbegierig geworden sind, wird es Ihnen auch leichter fallen, weitere und tiefergehende Werke über wissenschaftliche Methoden zu verstehen.

Wir wählen hier den Weg einer „Statistik ohne Statistik“, was sich zunächst so seltsam anhört wie „Brot ohne Brot“ oder „Auto ohne Auto“. Es klingt, als ob wir hungern oder zu Fuß gehen müssten, obgleich wir es besser haben könnten. Es klingt, als ob wir auf etwas Gutes, auf etwas Bekanntes verzichten müssten. Dieser Eindruck ist falsch, denn das soll mit dem Titel nicht nahe gelegt werden. „Statistik ohne Statistik“ soll meinen, dass wir das Gute an der Statistik bewahren und beherzigen und das vermeintlich Schlechte, das Abschreckende über Bord werfen. Wir wollen die unbegründeten Vorbehalte gegenüber der Statistik wegräumen, die häufig veröffentlichten Missverständnisse aufklären und die Ängste beseitigen, man könne Statistik nur als Mathematiker verstehen.