Primäre Hämostase

Bei allen invasiven Verfahren werden Gefäße verletzt und es blutet aus dem Gewebe. Der Operateur ist neben der chirurgischen Blutstillung durch Ligatur oder Naht besonders auf die physiologische Hämostase angewiesen. Diese ist auf ganz bestimmte Abläufe angewiesen, die regelhaft ablaufen müssen, um eine sichere Blutstillung zu erreichen. Treten hierbei Störungen auf und wird die Hämostase dabei kompromittiert, dann sind perioperative Blutungen unvermeidlich.

Blutströmung

Einen wichtigen Einfluss hat bereits die Blutströmung. Die Fließgeschwindigkeiten des Blutes und damit die Kräfte auf die Gefäßwand und auf die Blutbestandteile unterscheiden sich nämlich in den verschiedenen Abschnitten des Gefäßsystems. Man muss sich das so vorstellen, dass das Blut primär innerhalb des Gefäßes strömt und an der Gefäßwand geringer. Die Geschwindigkeit nimmt zur Gefäßmitte zu, so dass das Blut mit unterschiedlicher Geschwindigkeit strömt und dadurch Scherkräfte auftreten. Bei hoher Fließgeschwindigkeit sammeln sich die Erythrozyten bevorzugt in der Gefäßmitte und die Thrombozyten eher am Rande. Wird das Gefäß verletzt, dann können die Thrombozyten direkt mit dem subendothelialen Kollagen reagieren und die primäre Hämostase einleiten. Bei einem „gesunden“ Endothel geschieht das aber nicht, denn die Glykokalix des Endothels enthält keine spezifischen Rezeptoren für Thrombozyten, so dass sich die Thrombozyten am Endothel gar nicht anlagern können. Das Endothel gibt außerdem Stickstoffmonoxid (NO) und Prostacyclin (Prostaglandin I2) ab, um eine Thrombozytenaktivierung zu verhindern (Abb. A). Beide Mechanismen vermeiden gemeinsam eine unbeabsichtigte Thrombosierung.

Thrombozyten

Thrombozyten sind die Schlüsselelemente für die Hämostase, wie gleich ersichtlich werden wird. Ohne adäquate Thrombozytenzahl und ausreichende Thrombozytenfunktion ist eine Blutstillung nicht möglich. Beim Gesunden finden sich 170-400 x 109/l Thrombozyten im Blut, die aus den Megakaryozyten des Knochenmarks entstehen. Sie haben eine bikonvexe Form mit einem Durchmesser von 3 µm und eine durchschnittliche Lebenserwartung von neun Tagen. Sie haben zwar keinen Zellkern, aber speziell ausgebildete Granula, die ihren Inhalt schnell extrazellulär ausschütten können. Man unterscheidet zwei Arten von Granula. Die ?-Granula enthalten u.a. Fibrinogen, Gerinnungsfaktoren, von-Willebrand-Faktor (vWF), Thrombospondin, Fibronektin und Wachstumsstoffe, während die elektronendichten Granula ATP, ADP, Serotonin, Kalzium und Enzyme speichern.

Primäre Hämostase

Primär Hämostase nennt man die Blutstillung durch Bildung eines Thrombozytenthrombus. Sie besteht aus drei Schritten: Im ersten lagern sich die Thrombozyten an der verletzten Gefäßwand an, im zweiten werden die Thrombozyten aktiviert und im dritten bildet sich der entscheidende weiße Thrombozytenthrombus.

Anlagerung

Wenn das Endothel verletzt wird, wird das Subendothel exponiert, das reich an Kollagen (Fibronektin und Laminin) und an von-Willebrand-Faktor (vWF) ist. Die Thrombozyten kleben nicht einfach an dem Subendothel, sondern sie heften sich durch molekulare Brücken an. Im Subendothel liegen der vWF und das Kollagen und auf der Thrombozytenmembran befinden sie Glykoproteinrezeptorkomplexe (GP), von denen mehrere bekannt sind. Zunächst bindet sich der vWF an das GPIb/IX/V und das Kollagen an das GPIa/II/VI (Abb. B). Dadurch wird eine erste Adhäsion der Thrombozyten an der verletzten Gefäßwand ermöglicht. Allerdings sind die Adhäsionskräfte sehr gering, so dass sich der Thrombus leicht abscheren lässt. Wenn vWF nicht ausreichend vorhanden ist, dann können sich die Thrombozyten nicht an der Gefäßwand festhalten und eine erhöhte Blutungsneigung ist die Folge.

Primäre Hämostase

von-Willebrand-Syndrom (vWS)

Die häufigste hereditäre Ursache einer Blutungsneigung. Sie sollte deshalb dem Chirurgen bekannt sein. Es wird in mehrere Subtypen eingeteilt, die auch unterschiedlich behandelt werden, so dass ein Hämostaseologe hinzugezogen werden sollte. Dem Syndrom liegt letztlich ein quantitativer und/oder qualitativer Defekt des vWF zu Grunde, so dass sich die Thrombozyten nicht an das Endothel haften können. Dieser Mangel wird natürlich nicht durch die üblichen Globalteste (Quick, aPTT) erfasst, sondern nur über eine verlängerte Blutungszeit. Da der von-Willebrand-Faktor auch ein Trägerprotein des Faktor VIII ist, diesen stabilisiert und vor einem vorzeitigen Abbau schützt, kann das Syndrom auch zu einem Mangel an Blutgerinnungsfaktor VIII führen.

Aktivierung

Der zweite Schritt der primären Hämostase ist die Aktivierung der Thrombozyten. Die Thrombozyten verändern sofort ihr Zytoskelett, wenn sie mit der subendothelialen Matrix in Kontakt treten. Aus den bikonvexen Thrombozyten werden dann aktivierte kugelige Thrombozyten mit Pseudopodien (Abb. C). Dadurch können sie sich leichter verzahnen, einen Thrombus bilden und am subendothelialen Kollagen haften. Sie schütten ihre Granula aus und setzen Fibrinogen, Gerinnungsfaktoren, ADP, Platelet-Activating Factor, Thromboxan A2 und Serotonin frei (Abb. D). Dadurch werden weitere Thrombozyten, aber auch Makrophagen und Granulozyten angelockt, die Gerinnungskaskade wird aktiviert und eine Vasokonstriktion wird ausgelöst. Wird zum Beispiel die Ausschüttung von ADP oder Thromboxan A2 verhindert, dann wird die weitere Aggregation von Thrombozyten massiv abgeschwächt.

Thrombusbildung

Der aktivierte Thrombozyt verbessert die weitere Aggregationsfähigkeit deutlich, weil er nun den „stärkeren“ GP IIb/III entblößt. Das freigesetzte Fibrinogen und Thrombospondin binden sich an den stärkeren GPIIb/III, so dass die Thrombozyten fester miteinander „verkleben“. Die primäre Hämostase führt so nach zwei bis vier Minuten zu einem weißen Thrombus (Abb. E), der allerdings immer noch abgeschert werden kann.

Thrombozytenaggregationshemmer

Die primäre Hämostase wird durch Thrombozytenaggregationshemmer beeinträchtigt, die unterschiedlich wirken. Sie verändern nicht die Anzahl der Thrombozyten, sondern beeinflussen nur einige wenige, aber wichtige Schlüsselfunktionen. Acetylsalicylsäure (ASS) hemmt zum Beispiel die Cyclooxygenase und damit die Bildung von Thromboxan A2, wodurch die weitere Aggregation von Thrombozyten erschwert wird. Da alle anderen Mechanismen der Thrombozytenreaktion erhalten bleiben, ist die Funktion nicht in toto gestört. Die Wirkung von ASS ist irreversibel und bereits durch eine einmalige Dosis erreichbar. Bei den meisten Patienten reichen bereits 50–100 mg ASS zur Hemmung aus. Wenige Patienten benötigen bis zu 400 mg ASS, um eine verlängerte Blutungszeit zu erreichen. Bei manchen Patienten hat ASS keinen Effekt. Die Wirkung lässt erst durch neue, nicht gehemmte Thrombozyten nach. Da die Lebensdauer der Thrombozyten neun bis zehn Tage beträgt, sind nach ungefähr vier bis fünf Tagen ca. 50 % der Thrombozyten wieder voll funktionstüchtig, was bei normaler Thrombozytenzahl zur Operation ausreichend sein sollte. Sollte eine erhöhte Blutungsneigung unerwünscht sein, dann sollte die Operation ungefähr sieben Tage nach der letzten ASS-Einnahme geplant werden. Außer ASS sind auch noch die ADP-Hemmer wie Ticlopedin oder Clopidogrel verfügbar. Sie haben einen anderen Wirkmechanismus, die die ADP-abhängigen Effekte wie das Freisetzen von Fibrinogen und dessen Bindung an den GP-Komplex unterdrücken. Die ADP-Hemmer blockieren die Funktion ebenfalls irreversibel, so dass sie auch für 10 Tage abgesetzt werden sollten, um Blutungskomplikationen zu vermeiden. Zur dritten Gruppe von Aggregationshemmern gehören die Glykoprotein-IIb/IIIa-Antagonisten, die direkt die Glykoproteinrezeptorkomplexe hemmen. Inwieweit die Thrombozytenfunktion durch die Hemmer tatsächlich beeinträchtigt ist, offenbaren nicht die Routinewerte. Erst eine klinisch verlängerte Blutungszeit von etwa zwei Minuten ist manchmal der erste Hinweis, dass der Patient Medikamente eingenommen hat. Eine Funktionsuntersuchung (z.B. mit dem PFA-100) würde das bestätigen.

Koronare Intervention

Nach einer koronaren Intervention besteht ein stark erhöhtes Risiko, dass sich das eröffnete koronare Gefäß wieder durch einen Thrombus verschließt. Deshalb erhalten alle Patienten eine duale Thrombozytenfunktionshemmung, die aus einer lebenslangen Einnahme von 100 mg ASS und einer zusätzlichen Einnahme von Clopidogrel besteht. Das Thromboserisiko ist nach Ballondilatation innerhalb der ersten 14 Tage erhöht, sinkt dann deutlich ab und steigt wiederum nach vier Wochen an. Geplante Operationen sollten deshalb bevorzugt zwischen der zweiten du vierten Woche stattfinden. Werden „Bare-Metal-Stents“ (BMS) implantiert, dann ist das Risiko in den ersten vier bis zehn Wochen stark erhöht, so dass die Operationen erst nach drei Monaten geplant werden sollten. Einige Stents werden mit antiproliferativen Substanzen beschichtet, die die Restenoserate vermindern, aber zugleich die Endothelialisierung verzögern. Dadurch sind diese „Drug-eluting-Stents“ (DES) über einen längeren Zeitraum besonders gefährdet. Eine duale Hemmung ist hier für mindestens ein Jahr erforderlich, so dass elektive Operationen in dieser Zeit möglichst nicht durchgeführt werden sollten.

Hemmer absetzen

Bei diesen Patienten sollte das Risiko von Blutungen gegen das kardiale Risiko einer Okklusion sorgfältig abgewogen werden. Bei Risikopatienten sollte deshalb gemeinsam mit dem Kardiologen entschieden werden, ob die Aggregationshemmer eher abgesetzt werden sollten oder ob man das Risiko der Blutung in Kauf nimmt. Das reflexhafte Absetzen der Aggregationshemmer bei allen Patienten ist falsch und erhöht bei einigen Patienten sogar das kardiale Risiko. Besonders bei peripheren Eingriffen oder bei einem überschaubaren Operationsfeld kann auch unter Fortsetzen der Hemmung operiert werden – allerdings mit einem erhöhten Blutungsrisiko. Als wertvolle Alternative können kurz wirksame GP-IIb/IIIa-Antagonisten intravenös appliziert werden, die besser zu steuern ist. Es sollte beachtet werden, dass die Heparingabe keine echte Alternative für Thrombozytenaggregationshemmer sind.

Desmopressin

Bei einer Thrombozytopathie kann die Gabe von Desmopressin (Minirin®) indiziert sein, um Blutungskomplikationen zu vermeiden. Desmopressin steigert die Adhäsion und Aggregation der Thrombozyten und erhöht den vWF (von Willebrand-Faktor) und den Faktor-VIII-Konzentrat um das Zwei- bis Vierfache. Die Wirkung tritt nach 15 bis 30 Minuten ein und dauert bis zu 12 Stunden an. Man gibt 0,3–0,4 µg/kg KG (entspricht ca. 1 Amp./10 kg KG) in einer Kurzinfusion über 30 Minuten. Die Gabe kann alle 12 Stunden bis maximal sieben Tage wiederholt werden, wobei allerdings ein Wirkungsverlust eintritt. Nach der Gabe von Desmopressin kann eine „Flush-Symptomatik“ mit niedrigem Blutdruck und erhöhter Pulsfrequenz auftreten, die nicht mit einer Unverträglichkeit verwechselt werden sollte. Auf eine Flüssigkeitsbilanz sollte unbedingt geachtet werden, weil in seltenen Fällen eine Hyponatriämie mit Krampfneigung droht.