Bachelorarbeit an der Fernuniversität in Hagen, Fakultät für Wirtschaftswissenschaft

Die Privatisierung im deutschen Krankenhauswesen – Darstellung, Begründung und Kritik

1. PRIVATISIERUNGEN IM GESUNDHEITSWESEN

Das Gesundheitswesen zeichnet sich dadurch aus, dass eine ausreichende medizinische Versorgung allein durch Marktprinzipien nicht gesichert werden kann, weil Krankheiten nicht kalkulierbar, nicht vorhersehbar und ungleich verteilt sind sowie ein sehr hohes finanzielles Risiko für das Individuum bedeuten können (vgl. Reiners 2006, S. 13). Es wäre deshalb aus individueller Perspektive sinnvoller, das hohe Risiko auf alle Mitglieder einer Gesellschaft zu verteilen und im Sinne einer Solidargemeinschaft zu bewältigen. In einer Solidargemeinschaft ist aber nicht ausgeschlossen, dass einige der Beteiligten nicht an einem wirtschaftlichen Umgang mit den knappen Ressourcen interessiert sind und so viele Leistungen wie möglich in Anspruch nehmen, weil sie die Kosten nicht als konkrete Selbstbeteiligung zu tragen haben. Diese theoretischen Vermutungen werden aber de facto von Seiten der Nachfrager (Patienten) im Gesundheitssystem nicht wirklich relevant, weil nur wenige Personen medizinische Leistungen freiwillig „übernutzen“. Die im Gesundheitssystem auftretenden finanziellen Probleme werden weniger von der Nachfragerseite, sondern von der Anbieterseite (Ärzte, Krankenhäuser) dominiert und hervorgerufen (vgl. Reiners 2006, S. 18).

1.1 Wohlfahrtsstaat oder Neoliberalismus

Die Bundesrepublik ist gemäß Art. 20 I Grundgesetz ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat, der sich zur Daseinsvorsorge verpflichtet. Diese umfasst unter anderem die Gesundheit der Bürger und garantiert eine soziale Sicherheit basierend auf dem Solidar- und Subsidiaritätsprinzip. Da alle Bürger in Deutschland krankenversicherungspflichtig sind, haben sie einen Anspruch auf medizinisch notwendige Leistungen, die ausreichend und zweckmäßig sein sollen (vgl. Simon 2013, S. 109). Die Versorgung eines Kranken in einem Krankenhaus ist eine öffentliche Leistung, die staatlich verbürgt und gewährleistet wird, und zu dem alle Personen einen berechtigten Zugang haben. Diese Leistung wird aus Steuern, Sozialversicherungsbeiträgen und Gebühren finanziert (vgl. Sack 2019, S. 42). Es ist unbestimmt, ob die Kosten vollständig von allen Gesellschaftsmitgliedern als Solidargemeinschaft übernehmen werden sollten oder nur von denjenigen, die sich im Krankenhaus tatsächlich behandeln lassen. Es wird bisher eine duale Lösung bevorzugt, die darin besteht, die Kosten für die Verfügbarkeit des Krankenhauses dem Staat zu überlassen (vgl. Simon 2000, S. 45), der nach Art. 74 Abs. 19a Grundgesetz für die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser einzustehen hat, und die Kosten für die laufenden betrieblichen Kosten des Krankenhauses den Krankenkassen aufzubürden, weil sie direkt durch die Kranken verursacht werden.

In den letzten Jahrzehnten übten neoliberale Ideen zunehmend eine gesellschaftspolitische Hegemonie aus. Der Neoliberalismus in seiner gegenwärtigen Gestalt, der überwiegend von der Chicagoer Schule (z.B. Milton Friedman) geprägt wurde, ist kein einheitliches Theoriengerüst (vgl. Ptak 2017, S. 22), sondern ein negativ konnotierter Begriff, der den Anspruch einer unbeschränkten Marktgesellschaft mit Verselbständigung der Ökonomie ausdrückt (vgl. Ptak 2017, S. 30). Der Einzelne hat sich gemäß dieser Doktrin als homo oeconomicus dem Marktprinzip zu unterwerfen, der angeblich eine spontane Ordnung mit optimaler Allokation von Ressourcen schafft (vgl. Ptak 2017, S. 41f.).

Mit dem Regierungswechsel 1982 wurde in der Bundesrepublik Deutschland eine „geistig-moralische Wende“ verkündigt, die auf neoliberalem Denken basiert und eine konsequente Reduktion des Wohlfahrtsstaates und damit der Staatsausgaben anstrebte, um Freiheit, Selbstinitiative und Selbstverantwortung der Bürger zu fördern und zu sichern (vgl. Engartner 2017, S. 80). Nach neoliberalen Konzepten und der Neuen Politischen Ökonomie folgend sollte der gesamte öffentliche Sektor restrukturiert werden, um dem wirtschaftlichen Dilemma der öffentlichen Haushalte zwischen hohem Investitionsbedarf und fiskalischer Sparsamkeit zu entgehen (vgl. Sack 2019, S. 170). Es wurde als empirisch gesichert suggeriert, dass die öffentlichen Organisationen zu sehr durch politische Organe beeinflusst werden, zu bürokratisch, teuer und ineffizient sind und dem Bürger keinen Service bieten. Eine Abhilfe dieser Mängel versprach sich die (wirtschafts)politische Elite durch eine konsequente marktwirtschaftliche Orientierung. Die öffentlichen Organisationen sollten deshalb privatisiert werden und sich entweder durch eine private Rechtsform (z.B. GmbH) von dem politischen Einfluss lösen und ihre Tätigkeiten am Wettbewerb und nicht am öffentlichen Dienst ausrichten oder aber an private Unternehmen verkauft werden.

Die Privatisierung öffentlicher Organisationen entspricht einer Entstaatlichung von Aufgaben, Vermögen oder Organisationen mit Übergabe an eine profitorientierte Wirtschaft (vgl. Sack 2019, S. 61) und basiert letztlich auf einer „Ökonomisierung“ des öffentlichen Sektors unter dem Primat der Ökonomie, weil alle relevanten Interaktionen nur noch aus der Perspektive einer Logik der Ökonomie gesehen werden.

1.2 Krankenhäuser

Krankenhäuser übernehmen eine grundlegende Versorgungsfunktion, indem sie durch ärztliche und pflegerische Hilfeleistungen Krankheiten und Leiden behandeln und lindern. Sie werden von natürlichen oder juristischen Person betrieben, die der öffentlichen Trägerschaft (üblicherweise der Kommune und selten der Länder), der freigemeinnützigen Trägerschaft durch karitative Organisationen oder kirchliche Orden, die soziale, religiöse oder humane Zwecke verfolgen, oder der privaten Trägerschaft von Unternehmen zugeordnet werden, die Gewinn erwirtschaften wollen (vgl. Simon 2013, S. 368f.). Krankenhäuser können nicht einfach wie andere Unternehmen gegründet werden, um Gewinne zu erwirtschaften, denn die Planung der Krankenhäuser einschließlich des Betten- und Leistungsbedarfes obliegt den Bundesländern, die eine flächendeckende Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen haben.

Alle Träger orientieren sich sowohl am Sachziel, die Patientenversorgung zu gewährleisten, als auch am Formalziel, dieses wirtschaftlich zu erreichen (vgl. Prütz 2010, S. 17), denn sonst würden sie langfristig ihre Existenz gefährden. Bei den privaten Trägern wird unterstellt, dass die Gewinnmaximierung das uneingeschränkte oberste Ziel ist (vgl. Sibbel 2010, S. 49), um die Interessen der Shareholder zu befriedigen.

1.3 Warum Privatisierung?

Da die Privatisierungsbestreben öffentlicher Organisationen den Krankenhaussektor nicht grundsätzlich ausschloss, aber private Kapitalgeber sich in dem Sektor nur engagieren würden, wenn sie Gewinn erwarten durften, stellte sich die grundsätzliche Frage, ob mit der Behandlung von Kranken und Hilfsbedürftigen Gewinn erwirtschaftet werden darf und ob die Gewinnmaximierung durch geeignete Rahmenbedingungen eingeschränkt werden sollte. Früher galt die Orientierung am Wohl der Patienten als höchste Priorität und nicht das Gewinnstreben und deshalb wurden die erforderlichen Leistungen der Krankenhäuser am Bedarf ausgelegt und die konsekutiven Kosten nach dem Selbstkostendeckungsprinzip vollständig erstattet, so dass kein Gewinn erwirtschaftet werden konnte. Bedenklich war auch, wie sich die marktwirtschaftlichen Prinzipien auf eine Organisation auswirken würden, die sich vorher der Daseinsvorsorge verpflichtet fühlte und eher wohlfahrtstaatlichen Prinzipien unterlag.

Aus diesem Erkenntnisinteresse erwuchsen die Fragen, die in dieser Untersuchung beantwortet werden sollen: 1. In welchem Ausmaß und welcher Form wurde der Krankenhaussektor in den letzten 20 Jahren privatisiert. 2. Wie und warum wurde überhaupt eine Privatisierung der Krankenhäuser politisch und rechtlich durchsetzbar. 3. Welche Auswirkungen hatte die Privatisierung auf die Wirtschaftlichkeit, das Personal, die Qualität der Leistungen und den Gewinn der Krankenhäuser.

Zur Beantwortung wurden in einem ersten Schritt die empirischen Daten zur funktionalen, formellen und materiellen Privatisierung zusammengefasst, soweit sie seit 1992 vom Statistischen Bundesamt verfügbar sind (Kapitel 2). Damit wird eine Übersicht über das Ausmaß der Privatisierung auf dem Krankenhaussektor gewonnen. In einem zweiten Schritt wird anhand der Krankenhausfinanzierung vorgestellt (Kapitel 3), wie sich der rechtliche und politische Rahmen änderte, um eine Privatisierung zu ermöglichen oder gar zu erzwingen und zugleich attraktiv für Investoren zu werden. Damit wird hinreichend erklärt, wodurch die Privatisierung verursacht wurde. Im dritten Schritt werden diejenigen Effekte analysiert, die am stärksten durch die Privatisierung beeinflusst wurden (Kapitel 4), und zugleich kritisch erfasst, ob die angestrebten Ziele der Privatisierung auch erreicht wurden. Abschließend werden die Folgen der Privatisierung kritisch diskutiert (Kapitel 5).