Masterarbeit an der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften an der Fernuniversität in Hagen am Lehrstuhl für Soziologie III unter der Leitung von Prof. Dr. Sylvia Marlene Wilz.

Horizontale und vertikale Segregation der Geschlechter in der Deutschen Ärzteschaft von 1998 bis 2019

1.  Geschlechterdifferenzen in der Gesellschaft

Zur Differenzierung von Männern und Frauen wird gesellschaftlich das Merkmal „Geschlecht“ mit den dichotom geprägten Adjektiven „weiblich“ oder „männlich“ verwendet. Diese Begriffe sind nicht absolut trennscharf – wie die meisten qualitativen Merkmale – und jede morphologische, physiologische oder molekulare Definition führt in einigen Anwendungsfällen zu keiner eindeutigen Zuordnung. Sowohl plurale Lebensformen als auch eine zunehmende Individualisierung erschweren zusätzlich die dichotome Festlegung, was unter einer „Frau“ oder einem „Mann“ verstanden werden soll (vgl. Tonn 2016, 113), und öffnen so den Blick für alternative Kategorisierungen in mehrere Geschlechter, die für die Untersuchung aber unbeachtlich sind.
Das Geschlecht ist sicherlich neben der Generation und Ethnizität eine der wichtigsten Zuordnungskategorien in Urteilen und wird als Geschlechterverhältnis oder -beziehung zwischen Männern und Frauen, als normativ konfigurierte Geschlechterordnung oder als Geschlechterdifferenz thematisiert. Die Relevanz von Geschlecht im sozialen Umgang oder bei der Betrachtung sozialer Ungleichheit ist nicht zwangsläufig gegeben. In einigen sozialen Situationen ist das Geschlecht der Handelnden nicht bedeutsam, aber in anderen handlungsführend.
Inwieweit das Geschlecht tatsächlich eine relevante Einflussgröße für einen Sachverhalt ist oder zu einer solchen werden kann, hängt sowohl von den Rahmenbedingungen als auch der konkreten Situation des zu untersuchenden Sachverhaltes ab. Werden Gesellschaft, Organisationen und Akteure gemeinsam betrachtet, wäre auch noch zu klären, ob der Einfluss des Geschlechts hauptsächlich durch die gesellschaftliche Institutionen auf der Makroebene, durch formelle oder informelle Strukturen der Organisationen auf der Mesoebene oder durch Handlungen der Akteure auf der Mikroebene verursacht wird.
Der biologischen Geschlechtszugehörigkeit entspricht keine allseits akzeptierte natürliche soziale Statuszuordnung, die die wesentlichen Merkmale eines Geschlechtes als „natürliche Konstante“ festlegt. Im Kontext geschlechtersensitiver Untersuchungen wird analytisch zwischen „Sex“ als Geburtsklassifikation, „Sexkategorie“ als soziale Zuordnung zu einem Stereotyp und „Gender“ als intersubjektive Validierung innerhalb von Interaktionen unterschieden (vgl. Gildemeister 2010, 137). Mit „Sex“ wird auf diejenigen (sexuellen) Unterschiede zwischen Personen verwiesen, die auf reproduktive Merkmale beruhen. Mit „Gender“ sind in erster Linie die kulturellen und sozialen Differenzierungen von Personen gemeint, die als „feminin“ oder „maskulin“ bezeichnet werden (vgl. Funk 2018, 18). Im Rahmen dieser Untersuchung werden „Geschlecht“, „Sexkategorie“ und „Gender“ synonym verwendet.
Mit dem Gebrauch von „Geschlecht“ wird auf die Interaktionsebene referiert, denn es wird unterstellt, dass das Geschlecht in einem kontinuierlichen Prozess als „doing gender“ oder als „doing gender while work“ (re)produziert wird (vgl. Gildemeister 2010, 137). Diese (Re)produktion vollzieht sich in zwischenmenschlichen Interaktionen, die alltägliche Erwartungen über die Zuständigkeiten von Geschlechtern realisieren. Da „doing gender“ gezielt als Machtinstrument eingesetzt werden kann, das in der Regel zu einem „doing hierarchy“ mit männlicher Dominanz führt (vgl. Wetterer 2002, 145), sind geschlechtliche Zuordnungen nicht sozial neutral, sondern immer wertend aufgeladen. Sie können deshalb missbräuchlich eingesetzt werden, um ungerechtfertigte soziale Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern zu „legitimieren“ (vgl. ebd., 121). Gesellschaftliche Macht und Geschlecht sind eng miteinander verknüpft, weil Geschlecht mit ihrem impliziten Hierarchieverständnis nur unter bestimmten Machtbedingungen hervorgebracht wird und diese Macht sich nur durch das normierte reproduzierte Geschlechtsverständnis stabilisiert (vgl. Funk 2018, 111).
Obgleich die vollständige Gleichberechtigung aller Geschlechter sowie das korrespondierende Verbot diskriminierenden Verhaltens aufgrund des Geschlechtes zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Konsens gehören, dürfte kaum jemand ernsthaft bestreiten, dass im alltäglichen Handeln zwischen den Geschlechtern differenziert wird, indem eines der Geschlechter ermutigt wird, bestimmte Handlungen ausführen, während das andere Geschlecht davon abgehalten wird – obgleich beide an Interesse und Talent vergleichbar sind (vgl. Steffens und Ebert 2016, 5).
Im sozialen Alltag treten zwei Widersprüche immer wieder in Erscheinung: Erstens widersprechen die weit verbreiteten Gleichheitsvorstellungen der Handelnden und ihre damit verknüpften normativen Selbstansprüche den tatsächlich gelebten Mustern (vgl. Speck 2019, 67) und zweitens widerspricht ein unterstellter Wandel zu mehr Geschlechtergerechtigkeit der unveränderten traditionellen Geschlechterhierarchien, wie er in der gelebten Geschlechterstereotype verankert ist (vgl. Haines et al. 2016, 6).

1.1    Geschlechterunterschiede

Wie selbstverständlich wird unterstellt, dass es eindeutige, gesicherte und zweifelsfrei nachweisbare Unterschiede zwischen beiden Geschlechtern gibt, wobei es dahinstehen kann, worauf genau der psychologische oder soziale Unterschied zwischen den Geschlechtern beruht. Allgemein wird vermutet, dass es sowohl biologische Strukturen und Prozesse als auch soziokulturelle Einflüsse sind, die untrennbar interagierend die Ausprägungen bedingen (vgl. Eagly und Wood 2013, 3496).
„Frauen sollen ein System von Eigenschaften haben, Männer ein anderes. Frauen sollen fürsorglich, beeinflussbar, redefreudig, emotional, intuitiv und sexuell treu sein; Männer sollen aggressiv, willensstark, schweigsam, analytisch und promiskuitiv sein.“ (Connell 2013, 90)
Insgesamt wird für Frauen der Gemeinschaftssinn (engl. communality) als prägend angesehen, der sich in Sorge für andere, in Zugehörigkeit, in Ehrerbietung und in gefühlsbetonter Empfindlichkeit äußert (vgl. Heilman 2012, 115). Bei Männern wird als übergeordnetes Merkmal die Handlungsfähigkeit (engl. agency) angeführt, die sich wiederum in Leistungsorientierung, in Rationalität, in einem Hang zur Führung und in Eigenständigkeit differenzieren lässt.
In dieser Untersuchung wird angenommen, dass die Unterschiede der Geschlechter nicht vorgefunden, sondern sozial konstruiert werden. Eine „Frau zu sein“, ist nicht biologisch vorbestimmt, sondern ein ständiger Prozess, bei dem eine Person erst zu einer Frau wird (vgl. Connell 2013, 22). Eine Person konstruiert sich selbst in routinemäßigen Interaktionen als feminin oder maskulin und nimmt auf diese Weise ihren konkreten Platz in der Gesellschaftsordnung ein (vgl. ebd., 23). Ein Geschlecht wird nicht als ein „natürlicher“, biologisch bestimmter Zustand angesehen, sondern als eine soziale Struktur, als ein gesichertes und weit verbreitetes Muster sozialer Beziehungen, in dessen Zentrum eine „reproduktive Arena“ steht (vgl. ebd., 29). Das Geschlecht kann dabei nicht beliebig gewählt werden, sondern ist an eine bestimmte Praxis innerhalb einer gesellschaftlichen Ordnung gebunden. So ist es zum Beispiel in der gegenwärtigen Ordnung leichter, Männer von emotionalen Verpflichtungen zu entbinden und Frauen Bildung und persönliche Freiheiten vorzuenthalten (vgl. ebd., 107).
Ein unreflektiertes zwei-dimensionales Modell, dass nur zwischen Sex und Geschlecht unterscheidet, greift für sich allein zu kurz, weil sich die Geschlechterverhältnisse dezidierter und fruchtbarer analysieren lassen, wenn sie in mehreren Beziehungsdimensionen eingeteilt werden (vgl. ebd., 108ff.). Dazu gehören zunächst die direkten und diskursiv wirkenden Machtbeziehungen zwischen Personen und Institutionen. Des Weiteren sind auf die Produktionsbeziehungen hinzuweisen, die den Konsum und vergeschlechtliche Akkumulation regeln und dabei festlegen, dass Männerarbeit im Bereich entlohnter Arbeit und Produktion im wirtschaftlichen Bereich stattfindet und dass Frauenarbeit zu Hause als unbezahlte Arbeit aus Liebe und gegenseitiger Verpflichtung im Sinne eines Gabentausches erbracht wird (vgl. ebd., 114). Hinzu treten die emotionalen Beziehungen, die sich nicht nur auf die Sexualität beziehen, sondern auch auf die besonderen Beziehungen zur Familie oder Kindern, und dabei Männern eine emotionale Distanz zugestehen (vgl. ebd., 117). Außerdem sind symbolische Beziehungen relevant, die die Repräsentation, Werte und Interpretation der Welt im Interesse bestimmter sozialer Gruppen festlegen und sich in Kultur und Diskurs artikulieren (vgl. ebd., 119).

1.2    Horizontale und vertikale Segregation

Soziale Ungleichheiten sind zwar ein alltägliches Phänomen, sie bedürfen in modernen Gesellschaften aber einer hinreichenden Legitimation, denn die Grundwerte der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Personen untersagen ungerechtfertigte Ungleichheiten.
Einige der sozialen Ungleichheiten basieren darauf, dass das Geschlecht als akzeptierte Bestimmungskategorie dazu verwendet wird, Personen und ihre Handlungen nach bestimmten „geschlechtstypischen“ Merkmalen zu differenzieren und zu bewerten. Dazu werden gesellschaftlich akzeptierte Stereotype über „Frau“ und „Mann“ verwendet (vgl. Krell et al. 2018, 21ff.). Bei Stereotypen handelt es sich um erworbene kognitive Muster, die Einstellungen gegenüber Gegenständen oder Personen zusammenfassen und dadurch handlungsleitende Orientierungen vermitteln (vgl. Steffens und Ebert 2016, 13ff.), ohne dass jedes Mal erneut über komplexe Zusammenhänge nachgedacht werden müsste. Der Gebrauch von Stereotypen ist deshalb bei routinemäßigem Handeln üblich, praktisch hilfreich, zeit- und kostensparend.
Die Anwendung von Geschlechterstereotypen könnte in zwei Situationen zu ungerechtfertigten sozialen Ungleichheiten führen. Erstens wenn überhaupt kein relevanter Unterschied zwischen den Geschlechtern vorliegt, dieser aber dennoch behauptet wird und handlungsleitend werden würde. So ist zum Beispiel äußerst fraglich, ob tatsächlich ein weibliches, personen- und bedürfnisbezogenes Arbeitsvermögen existiert und ein davon unterscheidbares männliches, berufsbezogenes und tauschwertorientiertes Arbeitsvermögen, oder ob es sich dabei nur um eine kontingente soziale Konstruktion handelt (vgl. Teubner 2010, 500), bei der die Geschlechtszugehörigkeit bewusst zu einem relevanten Strukturierungs- und Hierarchieprinzip erhoben wird.
Zweitens wenn tatsächlich ein relevanter Unterschied zwischen den Geschlechtern vorliegt, sich dieser Unterschied aber nicht auswirken und keinesfalls handlungsleitend werden dürfte, weil eine geschlechtliche Differenzierung aufgrund des Verbotes diskriminierender Handlungen nicht zulässig wäre. So könnte eine Arbeitsteilung innerhalb einer Organisation so gestaltet sein, dass bestimmte Arbeitsbereiche oder Tätigkeiten nicht geschlechterneutral zugeordnet werden, sondern „einfache“ Tätigkeiten mehr von Frauen und „höherwertige“ mehr von Männern ausgeführt werden, was konsekutiv zu einer ungerechtfertigten horizontalen Segregation führen würde. „Verstand, Sachlichkeit, Technik und Muskelkraft wurde und wird mit männlichen Tätigkeiten assoziiert, Versorgung, Pflege, Erziehung und feinmotorisches Geschick Frauen zugeordnet.“ (Ehlert 2018, 203).
Würden die Positionen innerhalb der hierarchisch strukturierten Organisation direkt nach dem Geschlecht oder indirekt nach Eigenschaften zugeteilt, die üblicherweise dem Geschlecht zugesprochen werden, dann würde eine ungerechtfertigte vertikale Segregation der Geschlechter entstehen, in der sich die hierarchische Ordnung der Geschlechter in der Organisation spiegelt (vgl. ebd., 199).

1.3    Segregation in der Ärzteschaft

Die Profession „Ärzt*in“1 war historisch ein typischer Männerberuf und das herrschende Geschlechterverhältnis in der Medizin manifestierte sich durch die Teilung in eine männliche Profession und in weibliche zuarbeitende Berufe (Arzthelferinnen und Krankenschwestern) (vgl. ebd., 199). Erst nachdem zu Beginn des 20. Jahrhunderts Frauen zum Medizinstudium zugelassen wurden, entwickelte sich die Profession sehr langsam zu einem Mischberuf. Seit 1960 stieg die absolute Zahl aller berufstätigen Ärzt*innen von 92.806 auf 402.119 im Jahr 2019 und der Anteil der Ärztinnen an der gesamten Ärzteschaft ist mittlerweile kontinuierlich auf 47,6 % gestiegen (Daten der Bundesärztekammer)2, so dass die Medizin einer „Feminisierung“ zu unterliegen scheint.
Mittlerweile beträgt der Anteil der Frauen, die das Medizinstudium erfolgreich abschließen, über 60 % aller Studierenden und die Weiterentwicklung zu einem Frauenberuf (mit ihren negativen Folgen) wäre denkbar. Allerdings ist der medizinische Bereich trotz des zunehmenden Frauenanteils von einer deutlichen horizontalen und vertikalen Geschlechtersegregation geprägt, denn der Frauenanteil verringert sich in höheren Positionen drastisch und ist in den operativen Fachbereichen relativ gering. Selbst in der Frauenheilkunde, die als „weibliche Domäne“ gilt, sind geschlechterspezifische Karriereverläufe weiterhin deutlich nachweisbar (vgl. Hancke et al. 2011, A2148).
Die Zuordnung einer Ärzt*in zu einem bestimmten Fachgebiet ist nicht bereits mit der Berufswahl und dem Beginn des Medizinstudiums gegeben, sondern wird erst am Ende des Studiums und mit der Erteilung der Approbation virulent. Ärzt*innen sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausreichend ausgebildet, um sich niederzulassen und Patienten zu behandeln. Die Ärzt*innen sind genötigt, sich beruflich weiterzubilden, indem sie sich einer besonderen Fachrichtung gemäß der gültigen Weiterbildungsordnung (Fachärzt*in) zuwenden oder indem sie als Arzt ohne besondere Gebietsbezeichnung (Ärzt*in) tätig werden. Die Wahl der Fachrichtung ist für den weiteren Berufs- und Karriereweg entscheidend, denn die einmal gewählte Fachrichtung wird sehr selten gewechselt. Die Entscheidung wird deshalb von allen Ärzt*innen äußerst sorgfältig abgewogen und kristallisiert sich meistens bereits im Studium.
Welches Fachgebiet eine junge Ärzt*in für ihre spätere Tätigkeit wählt, hängt von vielen Einflüssen ab, wie die Wahl des Lebensstils, das Prestige und die Besonderheiten einer Fachrichtung, das zu erwartende Einkommen oder die gelebten Stereotype „Ärztin/Arzt“ oder „Mutter/Vater“ bei bestehendem Kinderwunsch. Wer sich zum Beispiel für die Unfallchirurgie mit vielen nächtlichen Bereitschaftsdiensten und ständig wechselnder Belastung entscheidet, der kann sich nicht zugleich für einen geplanten Lebensstil mit deutlicher Trennung zwischen Arbeit und Freizeit entscheiden. So wählen angehende Ärztinnen am Ende des Studiums übereinstimmend über alle Studienorte hinweg bevorzugt die Frauenheilkunde oder Kinderheilkunde und begründen diese Wahl mit einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ärzte bevorzugen dagegen die operativen Disziplinen und die Innere Medizin (vgl. Gedrose et al. 2011, 1244).
Es sind zwar Daten verfügbar, die die horizontale Segregation der Ärztinnen in Querschnittsuntersuchungen (Gedrose et al. 2011; Hancke et al. 2011; Kuhlmann und Larsen 2012) oder longitudinalen Untersuchungen (Abele und Nitzsche 2002; Buddeberg-Fischer et al. 2008; Ziegler et al. 2017a-c) bestätigen, aber es liegen keine Untersuchungen vor, ob sich die Präferenzen für bestimmte medizinische Fachbereiche über Jahrzehnte hinweg bei einem zunehmendem Anteil an Ärztinnen verändert haben.
Die Datenlage zur vertikalen Segregation der Ärzteschaft ist insgesamt sehr dürftig. Der Anteil an Ärztinnen in höheren Positionen ist weiterhin deutlich geringer als der der Ärzte, mit einer besonderen Männerdomäne in der Chirurgie (vgl. Kuhlmann und Larsen 2012, 226). Die Vorherrschaft der Ärzte scheint so offensichtlich, dass ein Blick auf die Namensschilder der Klinikleitungen eines beliebigen Krankenhauses zur Bestätigung auszureichen scheint.
Obgleich geschlechtsspezifische Ungleichheiten in Organisationen die Regel zu sein scheinen und besonders bei wenig qualifizierten Personen relevant sind, werden Geschlechterdifferenzen in der Ärzteschaft kaum kritisch thematisiert. Mit der Ausnahme, dass immer dann, wenn ein Mangel an qualifizierten Ärzten besteht, die Ärztinnen besonders ermutigt werden, sich den „männlichen Bereichen“ zuzuwenden. Es wäre denkbar, dass die hohe Qualifikation von Ärztinnen automatisch zu einer gleichberechtigten Stellung in der Ärzteschaft führt, aber es wäre genauso gut möglich, dass Geschlechterdifferenzen einfach nur als unerheblich de-thematisiert werden. Aus dieser Gesamtsituation drängte sich das Erkenntnisinteresse auf, ob sich mit zunehmendem Anteil an Ärztinnen die horizontale Segregation, die sich durch ein Ungleichgewicht in der Verteilung der Fachgebiete in „frauenverträgliche“ und „frauenunverträgliche“ Gebiete manifestiert, im Laufe der Zeit auflöst oder fortbesteht. Außerdem wäre von Interesse, ob sich auch die vertikale Segregation verändert oder ob Ärztinnen primär in der Niederlassung tätig werden wollen und keine klinische oder wissenschaftliche Karriere anstreben.
In der Untersuchung wird zunächst danach gefragt, ob eine horizontale oder vertikale Segregation der Ärztinnen in der Ärzteschaft empirisch nachweisbar ist, und wenn das der Fall sein sollte, wird versucht, nach den Gründen für diese Segregation in anderen publizierten Studien zu suchen. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich Geschlecht sozial durch ein Wechselspiel zwischen Handeln und Strukturen konstruiert (vgl. Wetterer 2002, 37) und die bisherige Studienlage eine kohärente Interpretation der Daten gestattet.
Dazu werden in einem ersten Schritt (s. Kapitel 2) diejenigen theoretischen Grundlagen skizziert, die zur sachgerechten Erläuterung der Geschlechterdifferenzen in der Ärzteschaft erforderlich sind, wobei die primäre Analyseebene der empirischen Daten die Mikroebene mit den individuellen Entscheidungen der Ärzt*innen ist. Ausgangspunkt der Interpretation ist eine sozialkonstruktivistische Sichtweise, die auf Erkenntnisse von Berger und Luckmann (Berger und Luckmann 1999) aufbaut und dann die Geschlechterdifferenzen in einem Mehrebenenmodell (Makro-, Meso- und Mikroebene) analysiert, um der Komplexität der geschlechtlichen Zusammenhänge gerecht zu werden. Dazu wird auf der Makroebene mit dem soziologischen Institutionalismus unterstellt, dass Geschlecht als Institution die gesamte Gesellschaft und damit auch die Organisationen durchdringt, indem es Deutungs- und Handlungsmuster (über Einstellungen) bereitstellt, dem die Individuen folgen. Auf der Mesoebene werden in Organisationen wichtige transformatorische Funktionen erfüllt, so dass einige Grundgedanken des organisationssoziologischen Neo-Institutionalismus aufgegriffen werden. „Doing gender while doing work“ ist der entscheidende Perspektivenwechsel auf die Familien- und Berufsebene und damit der Schritt mit Fokus auf die Arbeitsteilung und konsekutiv auf die Segregation (vgl. Wetterer 2002, 158f.). Eine handlungsbezogene Fundierung der Geschlechterverhältnisse und -differenzen durch Strukturierungsmechanismen ist auf der Mikroebene unerlässlich, um analysieren zu können, wie Individuen die Institutionen in ihrem Handeln und in Organisationen zugleich produzieren und reproduzieren. Dabei wird das Drei-Säulen-Modell der Institution von Scott (vgl. Scott 2008, 50ff.) erweitert und mit Konzepten der Strukturation von Giddens (Giddens 1988) verknüpft, um Geschlecht in den komplexen Beziehungsdimensionen (vgl. Connell 2013, 108ff.) ausreichend zu würdigen.
In einem zweiten Schritt (s. Kapitel 3) werden die empirischen Daten der Bundesärztekammer Deutschland von 1998 bis 2019 ausgewertet. Zunächst wird überprüft, ob der Anteil der Ärztinnen seit 1998 kontinuierlich zugenommen hat und somit eine „Feminisierung“ der Ärzteschaft feststellbar ist. Danach wird die Geschlechtsverteilung in den verschiedenen Fachbereichen innerhalb dieses Zeitraumes analysiert, um eine ungleiche Verteilung von Ärztinnen in den Fachbereichen als Ausdruck einer horizontalen Segregation nachzuweisen. Als letztes werden alle Fachbereiche im Zeitverlauf daraufhin ausgewertet, ob Ärztinnen häufiger in der Niederlassung tätig sind oder leitende Positionen im Krankenhaus einnehmen. Damit werden das Ausmaß und der Verlauf der vertikalen Segregation in der Ärzteschaft bestimmt. Da es sich bei den Daten um eine valide Vollerhebung der gesamten Ärzteschaft Deutschlands und nicht nur um eine repräsentative Stichprobe handelt, können gesicherte und verlässliche Angaben über die gegenwärtige geschlechtliche Segregation gewonnen werden. Für alle drei Subanalysen werden die verfügbaren publizierten Daten der letzten 20 Jahre ebenfalls ausgewertet und mit den Daten der Bundesärztekammer verglichen.
In einem dritten Schritt (s. Kapitel 4) wird auf allen drei Ebenen (Institution, Organisation, Handlung) untersucht, wie und wodurch die Entscheidungen der Ärzt*innen zugunsten einer bestimmten Tätigkeit durch das Geschlecht beeinflusst werden. Dazu wurden longitudinaler Studien (Befragungen, Interviews) und Querschnittsuntersuchungen (Befragungen) der letzten 20 Jahre zu diesem Themenkomplex eingeschlossen.
Auf der institutionellen Ebene wird zunächst auf die gegenwärtigen Stereotype fokussiert, weil sie in dieser Form für die Ärzt*innen direkt und indirekt handlungsleitend gewesen sind. Auf der organisationalen Ebene ist zusätzlich zu klären, inwieweit Ärzt*innen bei ihrer Wahl durch diskriminierendes Verhalten (lack of fit) oder De-Thematisierungsstrategien im Krankenhaus beeinflusst werden.
Auf der primären Analyseebene, der Handlungsebene, werden in Anlehnung an die Strukturation von Giddens vier strukturierende Perspektiven eingenommen, um den Geschlechtereinflusses auf die Entscheidungen der Ärzt*innen differenziert darzustellen und ausreichend zu würdigen. Es werden die kognitiven Regeln, die normativen Regeln, die Produktionsbeziehungen und die Machtbeziehungen untersucht, um einerseits den komplexen Einfluss des Geschlechtes gerecht zu werden und andererseits ein kohärentes Bild der Zusammenhänge zu präsentieren.