Bachelorarbeit an der Fernuniversität in Hagen, der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften im Studiengang Politikwissenschaft, Verwaltungswissenschaft und Soziologie zum Thema:

Die Bedeutung des Rational-Choice-Ansatzes im Modell der Frame-Selektion nach Esser/Kroneberg

1. Einleitung

Eine der wesentlichen Aufgaben der Soziologie als Wissenschaft besteht nach Max Weber darin, soziales Handeln zu deuten und zu verstehen, um es dadurch ursächlich erklären zu können (Weber 1990, S. 1) Dabei wird von Weber unterstellt, dass mit einer Handlung etwas beabsichtigt wird und eine Erklärung dann vorliegt, wenn der Sinn der Handlung verstanden wird. Es wird von Weber zugleich behauptet, dass das soziologische Erklärungsinteresse zwar darin liegt, kollektive Zusammenhänge zu erkennen, aber dies wird dadurch erreicht, indem individuelles Handeln erklärt wird. Aus der Sicht eines solchen methodologischen Individualismus sind soziale Phänomene nur erklärbar, indem unterstellt wird, dass Akteure sinnvoll handeln und dadurch die sozialen Phänomene bedingen. Es wird von vornherein als abwegig angesehen, dass kollektive Zustände direkt auf kollektive Zustände wirken bzw. dass es allgemeine kollektive Gesetzmäßigkeiten geben könne, die die kollektiven Zusammenhänge erklären könnten (Esser 2001a, S. 27; Schmid 2009, S. 50).
Die hier getroffene Entscheidung zugunsten des methodologischen Individualismus wirkt sich auf ontologische und epistemologische Annahmen der Analyse aus. Ontologisch wird unterstellt, dass alle sozialen Tatbestände auf individuelles Handeln reduzierbar sind und soziale Zusammenhänge als eigenständige Entitäten nicht existieren. Deshalb können soziologische Zusammenhänge auch nur begriffen werden, indem sie auf individuelles Handeln zurückgeführt werden. Damit muss jeder soziologische Zusammenhang im Makrobereich durch Zusammenhänge im Mikrobereich fundiert werden.
Um einerseits die Prinzipien des methodologischen Individualismus zu genügen und andererseits das soziologische Erkenntnisinteresse auf der Makroebene zu befriedigen, wurde das Makro-Mikro-Makro-Modell eingeführt (Coleman 1986, S. 1322). In diesem Modell wirken soziale Tatbestände der Makroebene auf den einzelnen Akteur und beeinflussen auf diese Weise sein Handeln auf der Mikroebene. Die einzelnen Handlungen wirken wiederum gebündelt bzw. aggregiert auf die Makroebene zurück und verändern somit die sozialen Tatbestände. Kollektive Zusammenhänge wären somit durch die beiden Übergänge von der Makroebene auf die Mikroebene und von der Mikroebene auf die Makroebene erklärbar. Auf der Mikroebene wird unterstellt, dass die Akteure zwar von der Makroeben beeinflusst werden, aber ansonsten autonome Entscheidungen gemäß einer allgemeingültigen Handlungstheorie treffen.
Von Esser und Kronberg wird das Modell der Frame-Selektion als allgemeine Handlungstheorie propagiert. Aufbauend auf der Wert-Erwartungstheorie im Rahmen der Rational-Choice-Theorie erweiterten sie den Anwendungsbereich, indem sie Elemente anderer soziologischer Paradigmen wie des symbolischen Interaktionismus und des Strukturfunktionalismus sowie der Einstellungsforschung integrierten (Kroneberg 2011, S. 317f.). Bei der Modellierung der Handlungstheorie verwenden sie die Sprache der subjektiven Erwartungsnutzentheorie (Expected Utility) (SEU-Theorie). Das Modell der Frame-Selektion geht wesentlich über den Ansatz der Rational-Choice-Theorie hinaus, weil es die besonderen Bedingungen konkretisiert, unter denen sich der Akteur entscheidet. Es wird anerkannt, dass der komplexe Kontext der Situation, die Definition der Situation, die Selektion der Handlung maßgeblich beeinflusst (Kroneberg 2011, S. 317).
Da Esser in dem Modell der Frame-Selektion nicht nur eine einfache Erweiterung der Rational-Choice-Theorie sieht, sondern das Modell auch einer anderen „inhaltlichen“ Selektionslogik folgt als die Rational-Choice-Theorie (Esser 2006, S. 358f.), wäre zu überprüfen, inwieweit das Modell der Frame-Selektion überhaupt noch der Rational-Choice-Theorie bzw. der SEU-Theorie bedarf. Es wäre zum Beispiel denkbar, dass das Modell der Frame-Selektion zwar die SEU-Sprache verwendet, aber ihr inhaltlich nicht mehr folgt.
In der vorliegenden Studie soll deshalb untersucht werden, ob das Modell der Frame-Selektion überhaupt noch die SEU-Theorie als Ausdruck der Rational-Choice-Theorie benötigt oder ob es möglicherweise vollständig auf sie verzichten kann. Da die Rational-Choice-Theorie nicht gleichbedeutend mit der SEU-Theorie ist, sondern sich unter diesem Begriff unterschiedliche Ansätze verstehen lassen, müssen diese sorgfältig differenziert werden, bevor die Frage beantwortet werden kann.
Die gesamte Analyse beschränkt sich von vornherein auf Entscheidungen über die Handlungen einer Person, so dass sich die gesamte Argumentation im Rahmen der Nutzentheorie bewegt. Interaktionen oder strategisches Handeln zwischen Personen bleiben bewusst unberücksichtigt, obgleich sie eigentlich der Kernbereich einer soziologischen Untersuchung sein sollten. Es wird aber (argumentum a fortiori) unterstellt, dass, sollte die Rational-Choice-Theorie im Modell der Frame-Selektion bereits im Rahmen der Nutzentheorie verzichtbar sein, dieser Verzicht auch auf strategische Entscheidungen zwischen mehreren Personen zutreffen würde.
In einem ersten Schritt werden diejenigen Aspekte der Rational-Choice-Theorie skizziert, die für den Untersuchungsablauf von Belang sind, und dabei werden vier verschiedene Ansätze basierend auf dem Rationalitätsprinzip und der Rational-Choice-Theorie definiert. Diese unterschiedlichen Ansätze werden nach ihren formellen und inhaltlichen Anforderungen einer instrumentellen Rationalität geordnet. Die höchsten Anforderungen erfüllt der Ansatz des homo oeconomicus (RO), die zweithöchsten der Ansatz der beschränkten Rationalität (RB), die dritthöchsten der Ansatz der heuristischen Rationalität (RH) und die geringsten der Ansatz des Rationalitätsprinzips (RP).
In einem zweiten Schritt wird aus der Perspektive des methodologischen Individualismus das Makro-Mikro-Makro-Modell zusammenfassend dargestellt, wobei das Hauptaugenmerk auf der Logik der Situation liegen wird. In der Logik der Selektion wird die besondere Bedeutung der SEU-Theorie als verbindliche Handlungstheorie kurz erläutert. Danach wird als verbesserte allgemeine Handlungstheorie das Modell der Frame-Selektion im Detail vorgestellt. Dabei werden die Grundannahmen der beiden Modi der Selektion dargestellt, um den fundamentalen Unterschied des automatischen und des reflexiven Modus zu verstehen. Des Weiteren werden die drei Selektionsmodelle (Frame, Skript, Handlung) analysiert.
In einem dritten Schritt wird überprüft, welche der definierten rationalen Ansätze überhaupt noch für einen der sechs möglichen Selektionsschritte (Modus * Modell) erforderlich ist, damit das Modell der Frame-Selektion funktioniert.
Dabei wird sich herausstellen, dass die SEU-Sprache bei der Modellierung des Modells der Frame-Selektion zwar häufig verwendet wird, aber inhaltlich nur noch das Rationalitätsprinzip RP notwendig und hinreichend ist. Die anderen Ansätze könnten für die Selektion der Handlung zwar hilfreich sein, sind aber nicht unbedingt erforderlich. Damit könnte das Modell der Frame-Selektion auf die SEU-Theorie vollständig verzichten bzw. das Modell wäre auch mit anderen Selektionsregeln verträglich.